Erklärung zum Trans Day of Remembrance 2024

Seit 1999 beteiligen sich Feminist*innen am 20. November an dem Transgender Day of Remembrance. Seit 25 Jahren wird an diesem Tag Personen gedacht, die aufgrund von Transfeindlichkeit ermordet wurden. Der Transgender Day of Remembrance stammt aus den USA und wurde maßgeblich von der trans Aktivistin Gwendolyn Ann Smith geprägt. Auch wir als Feministische Organisierung Gemeinsam Kämpfen haben diesen Tag zum Anlass genommen, ermordeten trans Personen weltweit zu gedenken.

Chanelle Picket wurde am 20. November 1995 ermordet. Rita Hester wurde am 28. November 1998 ermordet. Monique Thomas wurde im September 1998 ermordet. Sie alle waren Schwarze Transfrauen, die in den USA lebten und starben. Die Morde an ihnen führten zu Protesten, denen wir uns heute anschließen.

Rund um den Transday of Remembrance gibt Transgender Europe jedes Jahr den „Trans Murder Monitoring“-Bericht heraus. Im vergangenen Jahr 2023 wurde veröffentlicht, dass zwischen Oktober 2022 und September 2023 320 Morde an trans Personen gezählt wurden. 94% der Ermordeten waren trans Frauen, darunter vor allem Schwarze Frauen sowie Sexarbeiterinnen. In Europa waren 45% der ermordeten trans Personen Geflüchtete und/oder Migrant:innen. Es ist aktuell unmöglich die tatsächliche Zahl an ermordeten trans Personen zu erfahren. Die Dunkelziffer ist enorm hoch, Transfeindlichkeit und fehlendes Bewusstsein in Gesellschaft und Behörden machen transphobe Gewalt unsichtbar. Und dennoch geben uns allein die veröffentlichten Zahlen mehr als genug Anlass uns gegen Transphobie zu stellen und für Selbstbestimmung zu kämpfen.

Das System, in dem wir aktuell leben, ist ein patriarchales System. Es baut darauf auf, das gesamte Leben in Binaritäten zu spalten und durch Hierarchien zu ordnen. Es schafft Gegensatzpaare, die sich ausschließen und bei dem eins über dem anderen steht. Im Patriarchat gilt: Mann über Frau, Mensch über Natur, Weiß über Schwarz, Globaler Norden über Globaler Süden, Chef über Arbeiter, Gesunde über Kranke, Vernunft über Gefühl, Staat über Gesellschaft. Die patriarchale Logik ist nicht nur geprägt durch diese Binaritäten und Hierarchien, sie ist seit ihrer Entstehung als Ursprung von Unterdrückung vor über 5.000 Jahren darauf angewiesen.

Menschen streng in Frauen und Männer zu spalten bedeutet auch: Frauen systematisch ausbeuten können. Wenn es als „natürlich weiblich“ gilt, dass Frauen eine bestimmte Rolle in der Gesellschaft einnehmen, sich um andere kümmern, eigene Bedürfnisse zurückstellen oder am besten gar nicht erst entwickeln, dann können Männer problemlos ihre Sorgearbeit ausbeuten.

Sorgearbeit ist die älteste und ursprünglichste Arbeit der Welt; Arbeit, die schön und wertvoll sein kann, wenn sie nicht unter Ausbeutung und Abhängigkeit erzwungen wird. Sorgearbeit produziert keine Waren, sondern das Leben selbst. Sie ist nicht linear-fortschrittlich, sondern zyklisch und nachhaltig, sie kann keine Kolonien erobern und keine Waffen produzieren, kann sich keine Produktionsmittel aneignen und kein Kapital anhäufen. Sorgearbeit kann nur bedingt bestreikt werden. Und so war Reproduktionsarbeit dann eben auch nebensächlich in den Klassenkämpfen des letzten Jahrhunderts. Sie war schließlich keine echte Arbeit – nicht produktiv, bloß reproduktiv. Es ist die Arbeit, die wir alle zum Überleben brauchen. Die Arbeit, die Ressourcen nicht ausbeutet, sondern regeneriert, keine Waren produziert, sondern die Kreisläufe des Lebens gestaltet. 

Das ist ein Grund, warum wir uns positiv auf das Wort Frau, das im Kurdischen eng verwandt ist mit dem Wort für Leben, beziehen: Jin, also Frau, erhält Leben, also Jiyan. Jin, Jiyan… Azadî. Azadî bedeutet Freiheit: Die Freiheit der Gesellschaft, sich weder im zerstörerischen Kapitalismus zerreiben zu lassen, noch dem deterministischen Fortschrittsdenken eines historischen Materialismus unterzuordnen. Es bedeutet Freiheit der Reproduktionsarbeit von der Herrschaft der Produktionsarbeit, die unseren Planeten, unser aller Lebensgrundlage aufbraucht und erstickt. Azadî bedeutet Freiheit, Freiheit der Gesellschaft, die eng verbunden ist mit der Natur. Freiheit für Frauen und alle weiteren unterdrückten Geschlechter, soziale Rollen freiheitlich zu gestalten. Und es bedeutet Freiheit für alle Menschen von der erzwungenen Spaltung in binär geordnete Geschlechter. Diese Spaltung ist Grundpfeiler der patriarchalen Herrschaft.

Unsere Sozialisierung in Familie, Schule, Beruf und Städten ist ein entscheidender Faktor für unsere Identität. Doch sie bestimmt nicht alles, kann uns nicht alle zu kleinen Robotern des Systems machen. So wie die Liebe kann auch Geschlecht nicht allein auf das reduziert werden, was herrschaftliche Normen uns aufzwingen wollen. So wie wir Geschlecht befreien müssen, so müssen wir auch unsere Idee von Liebe befreien. Unsere Sozialisation hat uns tief geprägt, hat das Patriarchat sowohl in der Gesellschaft, als auch in jeder einzelnen von uns verankert. Aber sie beherrscht uns nicht vollkommen.

Abdullah Öcalan hat uns gezeigt: Die Herrschaft von Mann über Frau war Voraussetzung für all die weiteren grausamen Spaltungen der Menschheitsgeschichte: Kolonialisten herrschen über Versklavte, Besitzende über Lohnarbeitende, Menschen über Natur – unser Ziel ist es, all diese Herrschaftsformen abzuschaffen. Wenn wir die Herrschaft von Männern über Frauen abschaffen wollen heißt das nicht, dass in Zukunft Frauen über Männer herrschen sollen. Es heißt, dass wir diese binäre Spaltung in Frau und Mann als Grundproblem ansehen, das es zu bekämpfen gilt.

Für uns ist Geschlecht keine individualisierte Kategorie – es ist untrennbar mit Gesellschaft verbunden. Unsere Befreiung von binären Zuordnungen können wir niemals als Einzelpersonen und ohne gesamtgesellschaftliche Veränderungen erreichen. Nur wenn wir gemeinsam Schritt für Schritt patriarchale Unterdrückung hinter uns lassen, können wir verstehen was Vielgeschlechtigkeit, freie Frauen und auch freie Männlichkeit wirklich bedeuten kann.

Wir folgen darin dem Paradigma der Demokratischen Morderne. Wir haben gelernt, dass wir Probleme lösen können, wenn wir an den Punkt zurückkehren, wo sie begonnen haben. Unsere Auseinandersetzung mit Geschlecht findet dementsprechend nicht im luftleeren Raum statt. Sie muss ideologisch geleitet sein. Unsere Suche hat uns darin gezeigt: Binarität konnte sich in all den Jahren Patriarchat nie vollständig durchsetzen. Transfeindliche, bürgerlich-konservative bis rechte Parteien, wie die AfD oder CDU, sprechen von neuen Trends und einem Genderwirrwarr. Doch es gibt genügend indigenes Wissen, Mythologien und archäologische Funde die uns zeigen, dass Geschlechtervielfalt schon seit tausenden Jahren ein fester Bestandteil von Gesellschaft ist. Darin war Vielgeschlechtlichkeit mit einer gesellschaftlichen Rolle verknüpft und keine individuelle Kategorie. Um wirklich zu verstehen, was Nicht-Binarität in Bezug auf Geschlecht aber auch das gesamte Leben bedeuten kann und dementsprechen zu handeln, müssen wir geduldig sein. Es wäre überheblich zu sagen, wir hätten die Bedeutung von freiem Geschlecht verstanden. 5.000 Jahre Patriarchat haben unser Vorstellungsvermögen durch Binarität enorm geprägt.

Für uns ist klar – wir wollen, dass Menschen in Zukunft ihre gesellschaftlichen Rollen frei entfalten können, ohne patriarchalen Zwang, ohne kapitalistischen Zwang, ohne kolonialistischen Zwang. Und wir wollen die gesellschaftliche Rolle der Frau befreien, die über Jahrtausende unter immenser Gewalt das Leben für dessen Ausbeutung reproduzieren musste. Die gesellschaftlichen Kräfte, die das Leben erhalten und gemeinschaftlich und konkurrenzlos organisieren, sollten ihre Kraft zeigen. Wir müssen zusammenhalten gegen die Herrschaft, die uns spalten will. Das hat nichts mit der Anatomie unserer Körper zu tun. Wenn wir sagen, wir müssen uns als Frauen gegen die älteste Herrschaftsform organisieren, um alle Herrschaftsformen zu überwinden, dann meinen wir damit unsere Geschwister, die in der Gesellschaft die Rolle einnehmen, das Leben zu erhalten.

Ein selbstbestimmtes Ausleben von Vielgeschlechtlichkeit und ein Ausbrechen aus patriarchalen Geschlechtervorstellungen bringt das binäre System und seine patriarchale Logik ins Wanken. Menschen, die aus binären Rollen und Kategorien ausbrechen, zeigen uns, dass wir nicht vollends bestimmt werden von den Machtstrukturen, die unsere Gesellschaften formen. Das gibt uns Hoffnung! Es beweist, dass wir die Normen ändern können, die Herrschaft bedingen. Es beweist, dass Freiheit möglich ist, wenn wir uns nicht spalten lassen. Dass wir Fürsorglichkeit und gemeinschaftliches Denken und Handeln in uns allen entwickeln können, statt diese traditionell „weiblichen“ Eigenschaften abzuwerten und der Hälfte der Bevölkerung gewaltvoll aufzuzwingen, damit die andere Hälfte ihre ‚Freiheit‘ im Individualismus und in der Ausbeutung anderer suchen kann.

Unsere Hoffnung wird von anderen als Bedrohung wahrgenommen. Das zeigt sich an verschiedensten antifeministischen Diskursen. Die oben genannten Zahlen, seien sie noch so unvollständig, machen das in Bezug auf Transphobie sehr deutlich. In vielen Fällen mischt sich Transphobie mit Mysogonie und Rassismus. Der rechte und autoritäre Aufschwung, den wir gerade weltweit beobachten können, hat sich ein selbstbestimmtes Leben von Frauen, Geschlechtervielfalt und kulturelle Diversität zum Feindbild genommen. Die Ermordung von Malte auf dem CSD letztes Jahr oder die enorme Mobilisierung gegen die CSDs in Bautzen und anderen ostdeutschen Orten in diesem Jahr zeigen, dass die queere Community Feindbild und Angriffsziel des erstarkenden Faschismus ist.

Teil der binären Denkweise, die unter anderem Sexismus, Rassismus und Transphobie schafft, ist auch, dass wir uns als Feminist*innen spalten lassen. Dass wir Kämpfe gegen Mysogynie, gegen Transphobie und gegen Rassismus und Kolonialismus als getrennt voneinander sehen. Dass wir uns darin manchmal sogar gegeneinander richten, anstatt in Einheit durch Vielfalt zusammenzukommen. Es ist kein Widerspruch, gegen Feminizide und die Ermordung von trans Personen zu arbeiten. Es ist kein Widerspruch, sich gegen Gewalt gegen (Trans-)Frauen einzusetzen und darin stabil antirassistisch zu handeln. Ganz im Gegenteil, diese Kämpfe gehören unbedingt zusammen, sie können sich bereichern und müssen sich gegen die gleiche patriarchale Logik richten.

Wir sehen alle Menschen, die freiheitliche und solidarische Werte zum Ausgangspunkt ihres Denken, Handeln und Fühlens machen als Verbündete in unserem Widerstand gegen jede Form von Herrschaft. Wir wissen, dass wir nicht alle gleich sind. Wir werden auf unterschiedliche Weisen unterdrückt. Auch Rassifizierung, Migrantisierung, Ableismus und Klasse führen zu großen Differenzen unter uns. Neben diesen Diskriminierungsformen gibt es aber auch schöne Differenzen: unsere unterschiedlichen Kulturen zum Beispiel. Wir behaupten nicht, wir seien gleich, und durch unsere Befreiung wollen wir uns auch nicht alle gleich machen. Gemeinsam frei sein heißt nicht, all unsere Farben zu vereinheitlichen. Unsere Unterschiede sind unsere Stärke. Wir sehen unsere Gemeinsamkeit in der Wertschätzung des Lebens und in der Ablehnung der kapitalistischen, kolonialistischen und extraktivistischen Herrschaft der Herren.

Wir brauchen eine radikale anti-patriarchale Bewegung, die zusammensteht, und gemeinsam das global herrschende Patriarchat entmachtet. Teile und herrsche ist die Devise der Herrschenden. Aber nicht mit uns! Unsere Unterschiede sind unsere Stärke, wir werden nicht zulassen, dass sie unsere Differenzen gegen uns ausspielen. Wir stehen mit unseren Schwestern, hier und überall. Wir stehen mit allen Betroffenen von transfeindlicher und queerfeindlicher Gewalt. 

Audre Lorde lehrte uns: „In our world, divide and conquer must become define and empower.“ Wir müssen definieren lernen, also Worte finden für unsere Erfahrungen, um Probleme zu benennen und Widerstand zu leisten. Wir müssen uns kollektiv ermächtigen, also in gegenseitiger Solidarität.

Lasst uns das Patriarchat und alle andere Formen binärer Herrschaft stürzen! Lasst uns: Gemeinsam Kämpfen!

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