05.12.2018
Wir gehen durch die Innenstadt von Sulemanî, Autos und Fußgängerinnen teilen sich die engen Straßen mit Ständen, an denen gegrilltes Fleisch, Bohnen mit Reis, Kichererbsensuppe, Falafel, Pudding, Zigaretten, Kleidung, Gewürze oder Spielsachen verkauft werden. Frauen und Kinder sind in diesem Stadtteil wenige zu sehen, es ist eine Männerwelt, vor allem am Abend. So gut wie alle Verkäufer sind Männer oder Jungen. Vereinzelt betteln Kinder oder versuchen den Passantinnen Kaugummis oder Plastiktüten zu verkaufen.
Frauen sind hier im Zentrum im Straßenbild kaum präsent, aber es gibt sie vereinzelt. Einige Straßen weiter gibt es Märkte, wo mehr Frauen und Mädchen unterwegs sind. Auch im Daik Parki. Der Park ist nach einer grossen Frauenstatue benannt, die in der Mitte steht und zu Ehren der Mutter gebaut wurde. Keiner bestimmten Mutter, sondern der Mutter allgemein. Wir wundern uns über ihre Bedeutung und sprechen drei junge Frauen an, die im Park sitzen.
Alle drei studieren in Sulemanî und erzählen uns über ihren Alltag. Sie wohnen zusammen in einem Studentinnenheim. Als Frauen müssen sie um fünf Uhr immer zu Hause sein. Die Männer können bis 10 Uhr abends draußen bleiben. Das finden sie unfair. Studieren in den staatlichen Universitäten ist kostenlos, ebenso das Studentinnenheim, allerdings nur, wenn man einen bestimmten Notendurchschnitt erreicht hat. „Wie gefällt es euch in Kurdistan?“ fragen sie. Sie betonen, dass sich Frauen überall sicher bewegen könnten, natürlich gebe es einige Plätze, an denen sie sich nicht so wohl fühlen, aber im Allgemeinen gebe es z.B. keine sexuelle Belästigung. Es sei eben auch ein muslimisches Land, in dem es bestimmte Werte gebe. Es hätte aber viele Probleme in den letzten Jahren gegeben, wegen des Krieges mit Daesh und der ökonomischen Krise. Die Regierung hätte die Löhne nicht mehr zahlen können, auch die Lehrerinnen hätten gar keinen oder nur 50% des Lohnes bekommen und hätten aus Protest nicht mehr unterrichtet. Jetzt seien die Löhne schon wieder auf einem Niveau von 75% der vorherigen Löhne angekommen.
Sulemanî sei die weltoffenste Stadt in Başur, wird uns erklärt. Die Menschen sind sehr freundlich und „Die Bevölkerung in Sulemanî ist sehr ehrlich“, erklärt uns die Freundin Kurdistan, „viele Geschäfte im Sûq (Markt) werden abends einfach mit einem Vorhang verschlossen, würde man das bei Juweliergeschäften machen, niemand würde etwas stehlen.“ Wärend unserer Zeit in Bashur, kommen wir immer wieder ins Gespräch mit den Menschen. Viele davon haben bereits in Europa gelebt und sind jetzt aus unterschiedlichen Gründen wieder hier.
„Zwei Jahre war ich in Stuttgart“, berichtet der Puddingverkäufer, „aber ich habe meine Familie so vermisst, meine Eltern und Geschwister, da bin ich zurückgekommen“. Er wirkt zufrieden. Auch der Käsehändler war einige Jahre in Holland und spricht fließend Englisch. Auch er hat dort seine Familie vermisst, war einsam. „Jetzt führe ich mit meinem Bruder diesen Laden, seine und meine Familie, wir alle können davon leben und arbeiten alle zusammen“, sagt er strahlend. Die Ladenfläche beträgt gerade einmal ca. neun Quadratmeter. In einem Elektroladen spricht uns der Verkäufer auf Englisch an. Warum er so gut Englisch spreche, fragen wir ihn. „Ich war Englischlehrer, aber die verdammte Regierung hat uns seit 20 Monaten nicht bezahlt“, flucht er, „da war ich gezwungen einen Laden aufzumachen“. Am Abend, als wir an einem Straßenstand essen, kommt eine ältere Frau, sie spricht uns auf Kurmancî an: „Ich komme aus Aleppo, ich muss meine Kinder hier mit Betteln durchbringen“. Es gibt keine staatlichen Hilfen für die Geflüchteten, sie müssen sehen, wie sie durchkommen.
Geflüchtete aus Rojava
Von Geflüchteten aus Rojava haben wir schon bei einem Besuch bei Kongreya Star gehört. 2500 Familien aus Rojava leben im „Kamp Arbat Barîka“ ca. 30 Kilometer südlich von Sulemanî. Zuvor waren es 20.000, aber die meisten sind zurückgegangen. Die Flucht begann 2012, mit dem Beginn des Krieges in Syrien. „Viele wollen zurückgehen, aber sie haben sich auf dem Gelände des Camps inzwischen Häuser oder Geschäfte aufgebaut. Die Regierung lässt nicht zu, dass die Campbewohner*innen ihre Häuser oder Geschäfte verkaufen. „Da sie aber alle ihre Mittel dort hineingesteckt haben, können sie nicht zurück“, berichtet eine Freundin. „Nicht einmal Fenster oder Türen dürfen sie verkaufen“. In Arbat Barîka, sind die Campbewohner*innen in Selbstverwaltung organisiert, die Bewegung kann in das Camp gehen, berichtet sie weiter. Die YNK (PUK) mischt sich nicht groß ein. Anders sei die Situation in den Gebieten, die der PDK (KDP) unterstellt sind. „Die Flüchtlingscamps dort ähneln Gefängnissen“, sagen die Freundinnen, Frauenhandel sei an der Tagesordnung, niemand von der Bewegung dürfe in die Camps. Die Freundin Cîhan berichtet darüber, dass die Menschen aus Afrîn schnell zurückwollen „denn es gibt große kulturelle Unterschiede, die Frauen aus Afrîn sind sehr mit ihrem eigenen Land verbunden, mit der Natur verbunden, mit ihrer Erde verbunden. Viele sagen wir gehen lieber nach Şehba und leben dort in Zelten ohne Fenster und Türen, aber wir können solch ein Leben wie hier in Sulemanî nicht führen, z.B. werden auch die Kinder auf Soranî unterrichtet, das sich sehr von Kurmancî unterscheidet.“
Eine weitere Freundin, die gerade aus Österreich gekommen ist, berichtet, dass eigentlich die meisten Geflüchteten aus Rojava, die in Österreich leben, zurück wollten, aber als jetzt der Angriff auf Afrîn stattgefunden hat, hätte viele eine große Panik ergriffen. „Sie haben ihre Pläne zurückzukehren erst mal auf Eis gelegt.“
Wir kommen ins Gespräch mit arabischen Geflüchteten aus Selahaddin. „Zuerst haben hier viele Kurden aus Rojava gearbeitet“, berichtet uns ein Geschätsinhaber, „aber als Europa die Türen für die Syrer*innen weit aufgemacht hat, sind sie alle nach Europa gegangen.“ Diesen Punkt hatte auch die Freundin Medya schon angesprochen: „Es ist eine Politik der Staaten den Mittleren Osten von Jugendlichen zu entleeren“. Vor allem haben natürlich die gut ausgebildeten und wohlhabenden Menschen dem Mittleren Osten den Rücken gekehrt, was auch Nordsyrien vor große Probleme stellt, denn es fehlen überall die Fachkräfte.
Ein weiterer Gesprächspartner aus Selahaddin erzählte uns, dass seine Stadt 2015 von Daesh (dem sogenannten Islamischen Staat) eingenommen wurde. Vor fünf Monaten haben die Hashd al Shabi Daesh vertrieben, aber auch vor ihnen fürchten sich die Geflüchteten. Auch sein Freund Nurettin kann noch nicht zurück. Sein Haus wurde zerstört. 2015 floh er vor Daesh nach Sulemanî. Wir fragen ihn, wie es ihm hier in Sulemanî geht, seine ganze Familie ist hier. Er sagt, für ihn macht es keinen Unterschied. Inzwischen spricht er fließend Soranî, Kurmancî und schon etwas Englisch. „Araber*innen und Kurd*innen sind eins, wir alle wollen einen friedlichen Irak“.