13.12.2018
Seit 6 Tagen sind wir nun schon in Başur unterwegs. Auch wenn unsere Rucksäcke immer gepackt sind, machen wir Pläne für die nächsten Tage. Heute sind wir zu Besuch bei der Frauenbewegung für Freiheit in Kurdistan (RJAK) aus Başur. Es wird einer von vielen sein.
Es ist Donnerstagmorgen um 8 Uhr und wir stehen auf um uns für den heutigen Tag fertig zu machen. Aus der Stille des Hotels geht unser Weg hinein ins Gewusel der Stände und Geschäfte. Wir sind mit einer Freundin im Park verabredet und gehen gemeinsam mit ihr zu unserem Ziel, dem Sitz von RJAK.
Im Haus angekommen treffen wir auf zwei weitere Genossinnen. Wir werden herzlich begrüßt, warme Worte, Umarmungen und Küsse werden ausgetauscht. Egal wie lange man schon in Kontakt mit der Frauenbewegung ist, immer wieder wird man überrascht davon wie sehr der gemeinschaftliche und liebevolle Umgang das Miteinander unter den Frauen prägt.
Am gleichen Tag führen wir ein Interview mit der Freundin Yekdar über die Situation der Frauen in Başur. Zwei Tage später kommen wir wieder, diesmal mit vielen Frauen, denn heute stehen gleich mehrere Interviews an.
Auch diesmal lernen wir wieder neue Gesichter kennen, es ist viel los und trotzdem wird sich Zeit genommen jede zu begrüßen, sich gegenseitig wertzuschätzen ist eine wichtige Konstante im Aufeinandertreffen mit anderen Frauen.
Über die politische Arbeit der Freundinnen
Und so beginnen auch die beiden Geschichten der Frauen, die wir interviewen. Sie erzählen wie auch sie damals von den Freundinnen überzeugt wurden gegen diese Verhältnisse kämpfen zu müssen: „Zwei Freundinnen von RJAK sind zu mir nachhause gekommen. Wir haben bis nachts um 2 diskutiert. Danach wusste ich das ist mein Ding.“
Die Freundinnen, die damals zu ihnen kamen sind heute nicht da. In Häusern, wie dem von RJAK herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Das Haus ist Teil der Bewegung und wird so auch von allen genutzt. Heute sind es die Freundinnen Yekda und Sozdar, die mit uns in der Küche das Essen vorbereiten. Auch zu ihrer Arbeit gehört es, mit den Frauen in Suleymaniya ins Gespräch zu kommen. Die Besuche bei Familien fielen ihnen anfangs schwer, „diese Arbeit lernt man erst in der Praxis, dann liebt man sie“, sagt Sozdar, schließlich könne „man nicht nur in einem Bereich kämpfen. Alle Bereiche des Kampfes gehören zusammen.“ Politischer und bewaffneter Kampf gehören zusammen.“ So wenig gefestigt diese Praxis des aktiven Aufsuchens für die Politik der deutschen Linken ist, so zentral ist sie in der kurdischen Bewegung verankert. Unabhängig davon, welchen Repressionen sie ausgesetzt sind, führen die Freundinnen diese Gespräche, auch wenn sie ihre Vorgehensweise immer wieder anpassen müssen. Mit ihrer Zugehörigkeit zur Bewegung gehen sie weitestgehend offen um, erzählen die beiden, viel mehr noch ließe sich das kaum verstecken sagt Yekda: „Wir müssen nicht sagen, dass wir von der Bewegung sind, man sieht uns das an. Wir schminken uns nicht, wir tragen unsere Haare anders.“ In einer Stadt wie Suleymani, wo sich die Schönheitsideale von Frauen viel an westlich-kommerziellen Standards messen, fiele das sofort auf. In Başur könne sie nicht einfach in die Häuser von Frauen gehen, erzählt Sozdar. Stattdessen gehe sie immer wieder zu denen, die sie kenne, lernen so mehr und mehr Frauen kennen. Vieles dreht sich dabei um die Themen, die die Frauen selbst beschäftigen: Gewalt, Kindererziehung, Selbstvertrauen. Die Freundinnen fragen nach Problemen und versuchen dann sie gemeinsam zu lösen. „Es kommt uns darauf an zu sagen, ihr seid von euch selbst aus stark, ihr braucht dafür keinen Mann.“ Um das zu erreichen, braucht es Bildung, sagen die beiden. Auch für ihre Arbeit bei RJAK ist diese gemeinsame Bildung für und mit den Frauen die wichtigste Säule ihres Kampfes.
„Wir laden die Frauen zu Bildungen ein, damit sie sich selbst kennenlernen können.“ Die Reaktionen fallen ganz unterschiedlich aus, erzählen sie. Einige freuten sich über diese Besuche, weil sie ähnlich denken wie die Freundinnen oder die Entwicklungen in Rojava die Frauenrevolution auch in Başur sichtbar gemacht hat. Andere verweisen aber auch auf ihre Männer, sagen, der Ehemann wolle einen solchen Kontakt nicht.
Wie schwierig die politische Betätigung ist, bestimmt immer wieder unsere Interviews. Fethiye erzählt von ihrer Schwester, die sich schämt wenn sie F. Im Fernsehen sieht. „Da würde sie am liebsten direkt ausschalten“ erzählt F. Auch Sara erzählt, dass sie mit ihrer eigenen Familie brechen musste, um sich weiter politisch betätigen zu können. „Entweder deine politischen Ideen sterben, oder du“ soll ihr Bruder zu ihr gesagt haben.
Als Frau hier heimlich politisch aktiv zu sein, heißt, sich Gründe zu suchen um rauszugehen: Einkaufen oder in die Uni gehen. Manchmal ist es dann sogar so, dass die Familie „erleichtert“ ist, wenn herauskommt, dass die Tochter „nur“ politisch aktiv ist und sich nicht mit Jungs getroffen hat.
Gewaltvolle Realität der Frauen
Beide sehen als Problem an, wofür der Islam hier benutzt wird. Besonders das Dogma von Ehre und Schande greifen sie an. Das ist weder im Koran oder den islamischen Überlieferungen, sondern getragen durch die Ashiret-gesellschaften (Klan-gesellschaften). Frauen gelten dabei als Trägerinnen der Ehre in der Familie. Sara beschreibt, wie die Frauen hier dieses Konzept selbst verinnerlichen und daran glauben. Frauen können die Ehre der Familie nur bewahren oder verlieren, aber können sie selbst nicht wiedergewinnen. Ehre zu besitzen, ist hier in vielen Familien für Frau und Familie grundlegend. Wenn die Ehre der Familie gefährdet oder verloren ist, z.B. wenn ein Mädchen vorehelichen Geschlechtsverkehr hat, scheint es nicht möglich die Ehre zurückzuerhalten und gleichzeitig die Frau am Leben zu lassen. Auch die Frauen sehen manchmal keinen anderen Ausweg als sich das Leben zu nehmen.
Wie ANF News letzten Monat bereits berichtete wurden allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres in Başur schon 113 Frauen lebendig verbrannt, während 90 Frauen den Freitod durch Selbstverbrennung wählten. Hinzu kommen 37 Morde und 54 Selbstmorde auf andere Arten und Weisen. Neben den Dunkelziffern solcher Statistiken, erzählen uns die Freundinnen, dass besonders im Fall von Verbrennungen diese später als Selbstverbrennungen dargestellt werden.
Wie grausam diese Verhältnisse sind, wird deutlich wenn wir nachfragen was mit den Leichen der Frauen passiert. Diese so Sara, blieben teils über einen Monat in den Krankenhäusern liegen, niemand hole sie ab oder interessiere sich dafür. Erst später würden diese dann im Dunkeln der Nacht vergraben werden ohne Familie oder andere Angehörige.
Die Freundinnen erzählen wie die Frauen innerhalb dieser Logik als Besitz betrachtet werden, über den die Männer Verfügungs- und Befehlsgewalt besitzen. Wenn eine Frau die Grenzen überschreitet, heißt es dieser Logik folgend, die Männer der Familie besäßen nicht genügend Stärke, die Frau zu kontrollieren. Ehrverletzung bedeutet also auch Auflehnung gegen die Gehorsamshierarchie zwischen Mann und Frau. Eine Aussage, die auch immer wieder von den Freundinnen betont wird, wenn die Frauen sich wehren und emanzipieren steht ihnen ein System aus Gewalt und Unterdrückung gegenüber. Auch die Auslegung des islamischen Rechtes wird von beiden kritisiert. Die Frau stehe darin auf zweiter Stufe.
Ein weiterers Problem der Frauen hier ist das der weiblichen Genitalverstümmelung (kurz FGM/C Female Genital Mutilation/Cutting). Besonders in ländlichen Gegenden sei diese Praxis verbreitet. Eine große Schwierigkeit bei der Bekämpfung ist das Tabu und die Scham um das Thema.
Je nach Quelle erhalten wir bei unserer Recherche unterschiedliche Zahlen. Laut einer Studie von UNICEF aus dem Jahr 2013 sind in ganz Irak etwa 8 Prozent der Frauen von Genitalverstümmelung betroffen. Die Prozentzahl der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49, die einer Verstümmelung unterzogen wurden, liegt in der Region Suleymaniyah bei 54%. Die Zahlen zeigen, dass FGM/C nur in den nördlichen Regionen, einschließlich Erbil und Suleymaniyah praktiziert wird, während in anderen Regionen des Landes die Prozedur praktisch nicht existent ist.
Die Gesellschaft und insbesondere die Frauen in Başur sind eingeklemmt zwischen diesen regiden Vorstellungen von „Ehre“ und dem Kapitalismus, der hier etabliert werden soll, beschreibt es Yekda. Dass sie einerseits als „Eigentum“ der Familie gelten widerspricht sich nicht mit dem Schönheitsideal des Westens, das in Medien und Kultur immer wieder als Symbol der Emanzipation proklamiert wird. Im Kosmos von Heirat, Haus und Kindern, wie es Cihan als klassische Geschichte der Frauen beschreibt, lassen sich Makeup und Kleidung leicht als erstrebenswertes Ideal einfügen. In welchem Maße, diese Zwänge wirken unterscheidet sich dabei stark in den verschiedenen Gegenden Başurs. Gemeinsam sei es aber, dass die Gesellschaft in Başur vor allem eine der unterdrückten Bildung ist, beschreiben es die Freundinnen. In Suleymaniya seien Frauen durchaus auf den Straßen, den Schulen und Universitäten präsent, und doch ist die Arbeit der Freundinnen eine schwierig:
„Sie sind schwer zu überzeugen, sind mit sich selbst beschäftigt, weil Frauen immer klein gehalten wurden.“ Denn, auch wenn es gesetzliche Frauenrechte gibt, „gibt es kein System der Ausbildung, das ist das Problem“, sagt Cihan. So geraten auch die vielen Beispiele freiheitlicher und kämpfender Frauen in Vergessenheit, weil sie nicht erzählt werden. Yekda erzählt, dass Frauen immer mitgekämpft haben in den Auseinandersetzungen um kurdische Autonomie, so auch hier im Süden. Als Teil der Peschmerga haben sie nebem dem Kampf an der Waffe oft die unentbehrliche Reproduktionsarbeit geleistet: Essensversorgung, Verstecke bereitgestellt, Organisierungen in den Städten aufgebaut. „Ihre Geschichte ist vergessen, weil sie keine eigene Organisierung hatten“, sagt sie, dass das aber notwendig ist, wollen sie mit Bildung vermitteln. Sie erzählen von den Freundinnen Margaret und Leyla Qasim, jungen Frauen bei den Peschmerga, die heute Symbolfinguren des kurdischen Widerstandes im Irak sind. Die Frauen, die diese Geschichten erzählen, ihre Rechte kennen und einfordern, mit denen ist die Bewegung eng in Kontakt und war nicht selten wichtiger Teil der Bildung.
Repression durch den Staat
Für den Staat ist diese Selbstorganisierung auch in Başur durchaus gefährlich. YNK und PDK, die zwei dominierenden Parteien in der Region, behindern regelmäßig die Arbeit der Bewegung. Suleymaniya liegt im Einflussbereich der YNK (PUK): „Die YNK kommt vor allem, wenn wir zuviele Aktionen machen“, erzählt Yekda, „sonst beeinträchtigen sie die Frauenarbeit nicht so sehr, aber wenn es ihnen zuviel wird, rufen sie schon an und fragen nach was wir machen.“ Die PDK geht repressiver vor, nimmt immer wieder Frauen fest. Eines der größten Probleme in der Repression ist aber, dass beide Parteien immer wieder versuchen, die gut ausgebildeten, selbstbewussten Frauen aktiv abzuwerben. Mithilfe gut bezahlter Jobs in Fernsehen und Politik sollen der Bewegung die Mitglieder entzogen werden. „Bei uns ist das ja eher das Gegenteil“, sagt Yekda, „wir sind darauf angewiesen, dass die Leute uns unterstützen.
So wenig wir vor unserer Reise über die Arbeit der Freundinnen in Başur wussten, so beeindruckt sind wir von den vielen individuellen und kollektiven Geschichten, denen wir bei RJAK begegnen. Durch einige Lebensläufe ziehen sich die Realitäten aller vier Teile Kurdistans. Immer wieder sagen sie, die Arbeit hier in Başur, im Norden des Iraks , sei die schwierigste von allen – die Bedingungen sehr anders als in Bakur, Rojhilat oder Rojava. Wir hören gespannt zu und werden wieder kommen, auch um mehr Frauen wie Fethiye kennenzulernen, deren Leben durch die Begegnung mit den Freundinnen radikal verändert wurde: „Die Freundinnen von RJAK sind zu mir nachhause gekommen und haben mir alles ganz langsam erklärt und haben mir dieses Denken näher gebracht. Und dann hab ich sehr viele Dinge sehr schnell bereut. Ich wünschte ich wäre jünger gewesen und hätte das früher erlebt, dass man anders leben kann.“