Im Dorf der freien Frauen – Eindrücke aus Jinwar

15.12.2018

Der Tag gegen Gewalt an Frauen* ist ein Tag, an dem wir voller Wut über die gegenwärtigen Zustände sind, welche sich gegen Frauen* Trans* und Inter* richten. Es ist auch ein Tag, an dem wir voller Stolz sind, weil wir uns noch einmal bewusst machen, dass wir Viele sind, die kämpfen – und dass wir mit Vielen auch Großes aufbauen können.

Etwas, das in den letzten zwei Jahren hier in Rojava und Nordsyrien aufgebaut wurde, ist das Frauendorf Jinwar. Der Tag gegen Gewalt an Frauen* wurde gewählt um das Dorf offiziell zu eröffnen. Ein Teil unserer Delegation hatte die Möglichkeit hinzufahren und einige Zeit dort zu bleiben, während die anderen zu einer Demonstration nach Qamişlo fuhren.

Wir kommen bei Vollmond an; der Regen hat die letzten Tage die Erde so aufgeweicht, dass wir durch Schlammpfützen stapfen müssen, um bei dem Haus der Freundinnen anzukommen. Doch trotz Schlamm und Matsch ist die Schönheit des Dorfes auch bei Nacht zu sehen. Die Häuser sind alle aus Lehm und in einer runden, organischen Weise gebaut. Auf einem Steinbau, der noch aus Regimezeiten vorhanden ist, wurden Wandbilder, die starke Frauen, zum Beispiel aus der mesopotamischen Mythologie zeigen, gemalt. Wenn das Wetter es zulässt, ist geplant noch befestigte Wege mit großen Maschinen anzulegen.

Große Teile Rojavas wurden der Bevölkerung unter Hafiz Al-Assad in den 60er Jahren enteignet und für Getreide-Monokulturen benutzt. Der Ertrag blieb zumeist nicht in Nordsyrien. Mit der autonomen Selbstverwaltung kann die Ernte nun von den Kommunen selbst genutzt werden. Eine Freundin erzählt, dass der Boden durch die vielen Pestizide ziemlich ausgelaugt und hart geworden sei, was sich aber jetzt schon, nach zwei Jahren eigenem Anbau, ändert.

Wir verbringen den ersten Abend damit, aus Luftballons und Krepp-papier Deko für den nächsten Tag zu basteln, was eine Freundin scherzhaft als „echte revolutionäre Arbeit“ bezeichnet.

Am Tag darauf wird bei Sonne und blauem Himmel die Eröffnung des Dorfes gefeiert. Durch die Sonne kommen die warme Farbe des Lehms und die liebevollen Details zum Vorschein. Die Eröffnung besuchen mehrere hundert Menschen, viele aus den Nachbardörfern und umliegenden Städten, aber auch von weiter weg kommen sie nach Jinwar. Die Besucherinnen sind mehrheitlich Frauen, viele von Frauenorganisationen, zum Beispiel Freundinnen von der alternativen Wissenschaft Jineolojî, Frauen aus dem Frauendachverband Kongreya Star oder von den Frauen-Volksverteidigungskräften YPJ.

Es ist sehr berührend mit den verschiedenen Frauen zu feiern und zu tanzen, die auf unterschiedliche Art zur Verwirklichung der Frauenrevolution beitragen. Die das Land verteidigt haben und es möglich machten, dass es nun ein Dorf nur für Frauen und Kinder gibt, die ein kollektives, autonomes Leben aufbauen wollen.

In Jinwar gibt es jetzt 30 Wohnhäuser in unterschiedlichen Größen, einen Dorfplatz, eine Akademie für die Region, eine Grundschule, ein Gesundheitszentrum, einen kleinen Laden und eine Bäckerei. Die verschiedenen Lehmhäuser und teilweise größere Lehmgebäude wurden mit viel Kreativität gebaut und jedes Haus ist einzigartig. Die Akademie mit Ausstellungen verschiedenster Handwerkskunst made by women, ist von innen besonders schön.

Vom Dorfplatz aus kann man über eine Treppe auf das Dach der Gemeinschaftsküche gehen. Von dort hat man einen Blick auf das ganze Dorf. Daneben gibt es noch einen gemeinsamen Garten, sowie Schafe, Hühner, Pfauen und Hunde, um die sich gemeinsam gekümmert wird. Außerdem gibt es noch ausreichend Land, auf dem auch Getreide angebaut werden kann.

Bisher sind nur acht der 30 Häuser bewohnt von insgesamt neun Frauen und fast 30 Kindern. In den wenigen Tagen, die wir in Jinwar bleiben, haben wir die Gelegenheit die Frauen und Kinder im Dorf besser kennenzulernen. Wir werden viel eingeladen und erleben, dass es auch für die Frauen und besonders die Kinder selbstverständlich scheint, in die Häuser der anderen zu laufen, sich gegenseitig zu besuchen und gemeinsame Arbeiten zu machen. In Jinwar leben Kurd*innen aus den verschiedenen Regionen Kurdistans, Araber*innen und Ezid*innen. Dass es nicht für alle eine gemeinsame Sprache gibt, verhindert nicht das kollektive Zusammenleben. An einem Abend kochen wir zum Beispiel mit einer arabisch-sprechenden, einer kurdisch-sprechenden und einer gehörlosen Frau zusammen und verbringen trotz der Kommunikationshürden einen wunderbaren Abend.

Jede Frau, die in Jinwar lebt, hat eine bewegende Geschichte, oder wie eine Freundin aus dem Dorf es beschreibt: „Man könnte ein ganzes Buch über mein Leben schreiben“.

Wir merken bei den Gesprächen auch, wie sehr es ein Frauendorf braucht und dass es eigentlich noch viel mehr davon bräuchte. Die meisten Frauen, die in Jinwar leben, kommen aus gewaltvollen Partnerschaften oder sind verwitwet. Da es der patriarchalen Logik nach hier heißt, dass Frauen nicht alleine leben können, müssen Frauen, deren Mann sie verlässt oder der stirbt, meist zurück zu ihren Familien, oder zur Familie des Mannes ziehen. Frauen werden, wenn sie das nicht wollen, unter Druck gesetzt, zum Beispiel indem ihnen gedroht wird, ihnen die Kinder wegzunehmen. Mit Jinwar gibt es nun eine Alternative für diese Frauen, um dem Druck zu entfliehen. Sie können dort zusammen mit anderen Frauen „alleinstehend“ und mit ihren Kindern in einem Haus leben. Der Einzug in das Frauendorf bedeutet für viele Frauen einen Neuanfang. Zwar gibt es in den Geschichten der Frauen Gemeinsamkeiten, aber an sich hat jede eine ganz eigene Geschichte, warum sie hier ist. Nicht für alle Bewohnerinnen von Jinwar ist der Einzug in das Dorf die letzte Möglichkeit, sich aus gewaltvollen Beziehungen oder patriarchalen Familienverhältnissen loszulösen. Einige Frauen haben das Dorf im Fernsehen gesehen und fanden es eben eine gute Idee in einem Dorf ohne Männer zu leben. Doch für alle Frauen ist Jinwar nun ein neues Kapitel im Leben.

Anders als wir es vielleicht von den meisten Frauenhäusern oder Frauenschutzräumen in Deutschland kennen, ist Jinwar aber nicht nur ein Schutzraum, sondern ein Projekt der Jineolojî.

Angelehnt an Forschungen darüber, wie Frauen in matriarchalen Communities zusammen lebten, wird in Jinwar das gemeinsame Leben und die Organisierung von Frauen erprobt. Denn im neolithischen Zeitalter, der Zeit in der wir von einem Matriarchat in Mesopotamien sprechen können, wurde das gesellschaftliche Zusammenleben in erster Linie von Frauen getragen und durch eine ökologische Lebensweise ein nachhaltiges Verhältnis zur Natur geschaffen. Deshalb wurde in Jinwar möglichst umweltschonend gebaut, mit lokalen Ressourcen in traditioneller, tausende Jahre alter Bauweise. Perspektivisch wollen sich die Frauen so weit es geht auch selbst versorgen. Deshalb ist ein kommunaler Alltag wichtig. Die Frauen essen meist zusammen, unterstützen sich gegenseitig, ziehen gemeinsam die Kinder groß und machen die Arbeiten zusammen, bzw. rotieren mit den Arbeiten, die anstehen, wie z.B. dem Garten, der Schafherde, der Bäckerei. Daher organisieren sich die Frauen, treffen sich, um das Zusammenleben zu regeln und gründen kurz nach dem Tag der Eröffnung einen Dorfrat, der an das konföderale System angebunden ist.

Jinwar ist somit ein Beispiel, ein Projekt, bei dem geschaut wird, wie matriarchale Kulturen heutzutage funktionieren können. Selbst wenn matriarchal nicht gleich ohne Männer heißt, da auch Männer und andere Geschlechtsidentitäten in matriarchalen Kulturen vorkommen, ist das Zusammenleben von Frauen darin elementar. „Forschung der Jineolojî“ meint auch nicht Forschung im positivistischen Sinne à la Experiment, entweder funktioniert es oder es funktioniert nicht. Viel eher soll ein nachhaltiges kommunales Zusammenleben erprobt werden und in jedem Fall werden wir alle davon lernen können.

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