Kobanê – Stadt der Gefallenen

19.12.2018


Die Stadt Kobanê spielt in der Geschichte der demokratischen Föderation Nordostsyrien eine große Rolle. Als die Kämpfer*innen der YPJ und YPG 2015 die Stadt erfolgreich gegen die Angriffe von Daesh verteidigt haben, wurde die Revolution von Rojava auf der ganzen Welt bekannt. Der Mut und die Entschlossenheit der Frauen, die bis zum Tod zu kämpften, sorgte für große Bewunderung. Viele Menschen haben ihr Leben bei der Befreiung von Kobanê verloren. Einen Einblick in das Kriegsszenario und das Ausmaß der Zerstörung zeigt das Museum des Widerstands von Kobanê, wo ein Teil der komplett zerstörten Stadt mit den Verschanzungen aus dem Kampf für die Nachwelt stehengelassen wurde.

Generell ist der Tod im Kampf schon immer ein Bestandteil der Widerstandsgeschichte der kurdischen Bevölkerung gegen Kolonialismus und Unterdrückung gewesen und er ist es bis heute. All diese Verluste haben einen großen Schmerz in den Herzen der Menschen hinterlassen. Aber die kurdische Bewegung hat es geschafft, die im Kampf Gefallenen in ihre Widerstandsgeschichte einzubetten und anstatt Ohnmacht und Lähmung eine gewisse Form von Kraft aus ihrem Wirken zu ziehen. Sie sind Gefallene, Şehîds.

Die Menschen in der demokratischen Föderation haben sich als Angehörige von Gefallenen in einem Rat organisiert, um die Trauer zu teilen und sich gemeinsam gegen diese Form von Kriegsführung, die eben nicht nur physisch, sondern auch psychologisch ist, zu wehren. Ihr Ort ist der Meclisa Malbatên Şehîdan (Rat der Familien der Gefallenen). Sie gehen jeden Tag von Haus zu Haus und besuchen Familien der Şehîds. Die Kinder und Frauen der Gefallenen begleiten sie im Alltag und unterstützen sie auf allen Ebenen. „Ihre Kinder sehen sie als ihre eigenen Kinder“, sagen sie. Sie organisieren Gedenkfeiern, Beerdigungen und empfangen Gäste. Im Sinne der demokratischen Selbstverwaltung machen sie alles freiwillig und sehen sich in der Schuld der Şehîds, die ihr Leben gelassen haben, damit sie weiterleben können. Die Gefallenen sind die Vorreiter*innen, sie haben den Weg bereitet, sie sind das Licht und die Würde. Sie sind die Brücke zwischen dem Kampf gegen die Zerstörung und dem Licht. „Wenn es die Şehîds nicht gegeben hätte, dann hätte es uns auch nicht gegeben. Alles was wir hier wieder aufbauen, können wir nur tun, aufgrund des Blutes, das die Şehîds auf dieser Erde verloren haben“, erzählen uns die Menschen aus dem Meclisa Malbatên Şehîdan. Aber auch die Familien der Şehîds haben ihnen Kraft gegeben, als beim Kampf um Kobanê so viele gefallen sind. Sie wussten damals gar nicht, wie sie ihnen all die schmerzhaften Nachrichten bringen sollten. Aber in vielen Fällen war es dann auch andersherum. Die Familien der Gefallenen haben ihnen gezeigt, welche Bedeutung all die Şehîds haben und dass sie nicht nur für die Befreiung von Kobanê, sondern für die ganze Welt gefallen sind. Dass sich andere Menschen auf der ganzen Welt als ein Teil dieses Kampfes verstehen und sich daran beteilig(t)en, haben ihnen die Internationalist*innen gezeigt. Sie haben mitgekämpft und auf der ganzen Welt hat es Solidaritätsarbeiten zu Kobanê gegeben.

Die Vertreter*innen des Meclisa Malbatên Şehîdan zeigen uns die große Halle, in der Porträts von über tausend Şehîds hängen, u.a. von der Befreiung von Kobanê, Minbij und Raqqa. Ihr gemeinsamer Umgang mit den Verlusten, ihre tiefe Freundschaft zueinander und ihre Fähigkeit die Schmerzen in eine gemeinsame Kraft zu wandeln, hinterlassen einen tiefen Eindruck bei uns und den Wunsch auch selbst einen solchen Umgang mit unseren eigenen Verlusten im Leben zu finden. Sie laden uns ein abends zum Şehîdlik zu kommen, um dort gemeinsam an die Gefallenen zu gedenken.

Auf dem Weg dorthin fahren wir an der Statue von Arîn Mîrkan vorbei, die als ein weißer Engel an die Befreiung von Kobanê erinnert. Auf dem Mishtenurhügel, dem strategisch wichtigsten Punkt der Stadt, der damals von Daesh eingenommen wurde, hat sie sich in die Luft gesprengt. Ihr Widerstand spielt eine große Rolle in der Befreiung der Stadt und zeigt die besondere Rolle der Frauen in diesem Kampf. Die Freundinnen erzählen uns, dass die Frauen mit ihrem Kampfruf „Tilili“ auch einen psychologischen Krieg gegen Daesh geführt haben. Es hat die Männer sehr eingeschüchtert, da sie Angst hatten von einer Frau getötet zu werden und dann nicht ins Paradies zu kommen. Die Freundinnen erzählen uns allerdings auch, dass einige Frauen in die Hände von Daesh gefallen sind. Dies sei sehr schmerzhaft und schwer zu ertragen, einige können bis heute nicht darüber sprechen.

Die vielen Şehîds, die im Kampf um Kobanê gefallen sind und auch die, die aus Kobanê kamen und in anderen Operationen gefallen sind, liegen auf dem Şehîdlik am Rand von Kobanê begraben. Einmal die Woche wird den Şehîds gedacht. Als wir dort ankommen, beginnt es schon zu dämmern und wir betreten ein umfangreiches gepflastertes Gelände mit einer großen Kuppel, die einen roten Stern auf dem Dach trägt. Musik wird gespielt. Wir laufen durch die parallel angelegten Gassen der marmornen Gräber und bekommen zumindest einen kleinen Eindruck davon, wie viele Menschen hier gefallen sind, allein aus dieser einen Stadt. Die Musik endet und es werden Ansprachen von der MLKP (türkische Linke) und dem Meclisa Malbatên Şehîdan gehalten. Nach einer Schweigeminute für die Gefallenen wird auf jedem Grab eine Kerze angezündet und der ganze Şehîdlik leuchtet in einem gelben Licht in der Dämmerung. Wir laufen durch die Gassen des Friedhofs, auf einigen Gräbern sind Fotos der Kämpferinnen und Kämpfer aufgestellt, an manchen stehen die Kampfgefährten, an anderen die Familien des Gefallenen.

Der Eingang zum Gefallenenfriedhof

Wir spüren eine Schwere, aber vielmehr sind wir berührt von der Stärke, die der Ort und die gemeinsame Atmosphäre ausstrahlen. Das lässt uns auch nachdenklich werden, denn auch wir haben aus unseren Kämpfen Freundinnen und Freunde, die nicht mehr unter uns sind. Auch sie sind Gefallene. Leider haben wir noch keine kollektive Art und Weise gefunden damit umzugehen und ihr Erbe in unserem Kampf weiterzutragen. Ihre Wünsche und Träume, ihren Kampf und ihre Utopie weiterzuführen und sie damit in uns, unseren Gedanken, unseren Geschichten, unserem Leben und Kampf weiterleben zu lassen. In der kurdischen Bewegung tragen die Kämpferinnen und Kämpfer die Namen von Şehîds, um eben dieses Erbe weiterzuführen. Die Şehîds zeigen uns auch, dass unser jetziger Kampf nicht losgelöst von ihrem Kampf ist. All unsere Kämpfe haben eine lange Geschichte und hängen zusammen in dem, was die kurdische Bewegung den Kampf der demokratischen Moderne gegen die kapitalistische Moderne nennt. Wir alle reihen uns ein in diesen Kampf und können daraus unsere Kraft ziehen. Mit all diesen Gedanken und Gefühlen verlassen wir den Şehîdlik wieder und verabschieden uns von den Kämpferinnen der YPJ, die am Eingang stehen und die Menschen verabschieden.

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