Ein Besuch bei der autonomen Selbstverwaltung in Kobanê

19.12.2018

 

Wir besuchen in Kobanê die autonome Selbstverwaltung der Region Firat (Euphrat). Sie verwaltet als eine Art Landkreis (Herêm) die zwei Kantone Kobanê und Girê Spî. Mit der Befreiung der neuen Gebieten von Daesh erweiterte sich die Föderation Nordsyrien und es wurde notwendig die Verwaltungsstruktur umzustellen. Deswegen wurden vor einem Jahr die Kantone zu Landkreisen zusammengelegt.

Das große Gebäude ist ein zweistöckiger Neubau, bei dem noch deutlich die Einschusslöcher des Krieges zu sehen sind. “Das Haus war zu Regimezeiten die Zentrale des Geheimdienstes. Hier hatten sie ihre Büros, die Folterkeller waren woanders”, erklärt uns Heval Zozan, unsere Begleiterin. Im Flur gibt es eine kleine Fotoausstellung mit Stadtbildern von Kobanê vor und direkt nach dem Krieg. Häuser sind wenn überhaupt auf letzterem nur noch als Betonskelette zu erkennen,

Es ist beeindruckend, wieviel Aufbauarbeit in der Stadt schon geleistet wurde, wenn man sich den jetzigen Zustand anschaut. Überall wird neu gebaut.

Wir haben die Möglichkeit mit einigen Frauen Interviews zu führen, die in unterschiedlichen Bereichen der Verwaltung tätig sind. Unser erstes Gespräch führen wir mit der Freundin Gule, Ko-Vorsitzende (Hevserok) der Außenbeziehungen der Frauenkommisson.

Wir sprechen über den Wiederaufbau der Stadt und Gesellschaft nach dem Krieg ab 2014. Als die Selbstverwaltung aufgebaut wurde, seien viele Menschen, die wegen des Krieges aus der Stadt flohen, nach Kobanê zurückgekommen und wollten sich an den Aufbauarbeiten beteiligen.

Besonders Frauen spielen eine zentrale Rolle, erklärt uns Heval Gule. Die Frauen stecken mitten in einem unglaublichen Befreiungsprozess – im Vergleich zu ihrer Situation zu Regimezeiten und jetzt. Vorher seien sie im öffentlichen Leben praktisch unsichtbar gewesen, die wenigsten jungen Frauen besuchten eine weiterführende Schule. Die höchste gesellschaftliche Position bis zum Jahr 2010, die eine Frau erreichen konnte, war der Beruf der Lehrerin. Frauen waren ausschließlich für den Haushalt und die Erziehung der Kinder zuständig. Das sei zwar zum grossen Teil heute auch noch so, dennoch partizipieren nun Frauen vermehrt im politischen, sozialen und öffentlichem Leben. Eine Veränderung sei schon spürbar, so Gule. Aber bis ein tiefgreifender Wandel im Bewusstsein der Gesellschaft erreicht werde, sei es noch ein weiter Weg.

Die Kommission in ihrem Zuständigkeitsbereich, macht viel Bildungsarbeit. Sie beginnen mit autonomer Frauenbildung, in der sie über Frauenrechte sprechen. Dann folgen gemischte Bildungen und die Männerbildungen. Aber nicht nur ihre Kommission realisiert die Bildungsarbeiten. “Am 25.11. zum Beispiel haben sich alle Fraueninstitutionen und -einrichtungen daran beteiligt überall in der Stadt Seminare zum Thema Gewalt gegen Frauen durchzuführen.” berichtet Gule.

Einen wichtigen Einfluss auf die Gesellschaft hatten die Kämpferinnen der YPJ, die eine aktive Rolle bei der Befreiung Kobanês spielten, beschreibt Gule. Sie dienen als Vorbild, alle haben erfahren, dass Frauen selbstbewusst kämpfen können und auch dadurch habe sich das Frauenbild gewandelt, erklärt Gule. “Sie haben auch mich dazu gebracht, dass ich das Haus verlassen und arbeiten möchte, dass ich einen aktiven Beitrag in diesem Prozess leisten kann.” Das gegenüber der Familie durchzusetzen war überhaupt nicht leicht, ergänzt Gule.

Heval Helîn ist unsere zweite Gesprächspartnerin und Sprecherin des Rates der Euphratregion. Sie knüpft mit ihren Ausführungen zum Prinzip des Ko-Vorsitzes an unser vorheriges Gespräch an:

“Neben den Bildungen, die zum Thema Gleichberechtigung durchgeführt werden, ist auch eine strukturelle Veränderung entscheidend. Daher wurde 2014 das Prinzip des Ko-Vorsitzes eingeführt.” Das sei auf den ersten Blick zwar nur eine formale Quotenregelung, aber bedeutet für diese Gesellschaft einen darüber hinausgehenden Wandel, betont Helîn. In allen gesellschaftlichen Bereichen, Institutionen, Organisationen, Räten, Kommunen, etc. gibt es eine Frau und einen Mann im Vorsitz. Die Quote ist auf 50% festgelegt. In der Verwaltung hier im Landkreis arbeiten aber 60% Frauen, das hätte sich Schritt für Schritt entwickelt, so Helîn.

Von Anfang an haben zwar immer mehr Frauen in den Strukturen gearbeitet, aber in den höheren Positionen waren wiederum nur Männer verantwortlich. Daher wurde das anhand des Quotensystems formalisiert. Helîn erzählt, dass es viele Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Prinzips gab: “Zum Beispiel haben sich dann einige doch nur an den männlichen Vorsitz gewandt. Frauen mussten sich das auch erstmal selbst aneignen, sich was zuzutrauen.” Das Hevseroksystem sei auch wichtig, weil sich so eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen entwickeln kann.

Mit der Frauenrevolution hätten Frauen große Schritte gemacht, jetzt seien 85% aller Frauen in unterschiedlichen Arbeiten aktiv, so Helîn. Es gibt alle zwei Jahre ein Rotationsprinzip. In der Leitung, als auch in den unterschiedlichen Kommissionen. Helîn erzählt, dass sie vorher in den autonomen Frauenarbeiten aktiv war. “Es ist gut für die Entwicklung von Menschen, wenn sie verschiedene Sachen machen und sich neuen Herausforderungen stellen.” Weiter führt sie aus, dass Frauen immer autonom und in gemischten Strukturen organisiert sind. Bei Bereichen, die nur Frauen betreffen, gibt es nur eine weibliche Leitung.

Helîn erklärt uns geduldig den Aufbau der Verwaltung mit den unterschiedlichen Kommissionen, Kommunen, Räten, Gebieten und zivilgesellschaftlichen Dachverbänden. Der Rat der Region Euphrat organisiert sich in verschiedenen Kommissionen, die alle unterschiedliche Aufgabenbereiche abdecken: Frauen, Sicherheit, Recht, Bildung, Gesundheit, Stadtverwaltung, Gesellschaft, Diplomatie (Aussenarbeit), Verteidigung, Jugend, Finanzen, Wirtschaft und Energie.

Wir fragen nach, welche Einnahmen die Verwaltung eigentlich hat, denn Helîn zählt uns auf, was alles von der Selbstverwaltung getragen wird. Zum Beispiel gibt es eine soziale Unterstützung in den Geflüchtetencamps, die Krankenhäuser sind kostenlos, es gibt auch eine finanzielle Unterstützung für die Familien von Gefallenen. Ob es so etwas wie Steuern gäbe?

Nein, in diesem Landkreis zumindest nicht, berichtet Helîn. “Jeder Haushalt gibt im Monat 10.000 syrische Pfund (20 Euro) für Wasser und Strom.” Weitere Einnahmen ergeben sich über den Grenzhandel, das Erdöl und den Strom, der nach Syrien verkauft wird. Außerhalb von Syrien kann aufgrund des Embargos nichts verkauft werden. Es gebe noch viele Quellen zur Erdölförderung – die meisten seien aber stillgelegt, erzählt Heval Hevîn weiter. Über die Kooperativen kämen auch Einnahmen für die Stadtverwaltungen herein. Zwischen den Kantonen werden auch Gelder umverteilt, je nachdem wo was benötigt wird. In großen Teilen versorge sich die Bevölkerung, so gut es geht, selbst. Das würde die Selbstverwaltung auch unterstützen.

Das letzte Interview führen mit Heval Nesrin, die für die Energiekommission zuständig ist. Ihre Kommission kümmert sich um drei Bereiche: Brennstoffe, Gas und Elektrizität. Elektrizität beziehen sie im Moment von drei Staudämmen. Das grösste Problem dabei sei aber das Wasser. Es gäbe sehr wenig Wasser, weil die Türkei das Wasser aufstaut. “Wenig Wasser heißt wenig Strom,” berichtet sie. Eigentlich könnte man jede Sekunde 500 Kilowatt Strom produzieren, aber im Moment sind es nur 200 KW. Neben den zusätzlichen Generatoren, läuft die gesamte Stromversorgung über Wasserkraft. Durch den Krieg gab es jedoch viele Schwierigkeiten. Viel Infrastruktur wurde erst vom Regime, dann von Daesh zerstört. Mit viel Arbeit wurde ein Teil der Infrastruktur wieder aufgebaut, so dass es jetzt in allen Gebieten wieder Strom, wenn auch nicht durchgängig gibt.

Wir fragen sie nach Plänen alternativer Energiequellen. Nesrin berichtet uns über Pläne zur Gewinnung von Solarenergie. Außerdem planen sie ein Projekt zur Biogasherstellung. Aber es braucht Fachwissen dafür, was sich gerade angeeignet wird.

Uns fällt auf, dass Diesel der Schmierstoff der Revolution ist. Man heizt mit Dieselöfen, die Generatoren brauchen Diesel, die Autos und Traktoren fahren damit. Deswegen fragen wir Heval Nesrin nach der Verteilung von Gas und Diesel in den Kommunen.

Nesrin erklärt uns: “Jede Kommune in den Nachbarschaften hat eine verantwortliche Person für Diesel und Gas, die je nach Kommunenbedarf von einem Verteilungszentrum Gas und Diesel erhalten. Diese Person verteilt das dann an die Haushalte weiter. Im Winter gibt es zwei Verteilungsrunden.”

Nesrin schliesst, dass es schon ökologischere Zukunftspläne zur Energiegewinnung gäbe und sie dabei sind, diese auszuarbeiten. Aber in der jetzigen Situation und unter diesen Umständen versuchen sie in der Kommission hauptsächlich überhaupt eine Stromversorgung zu gewährleisten.

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