Leben unter Daesh – oder – ein Versuch schwer Begreifbares zu beschreiben

28.12.2018

In unseren Gesprächen mit Freundinnen hier, kommen wir immer wieder auf die Zeit unter Daesh zu sprechen. Wie man sich vorstellen kann, ist es nicht einfach über diese Erlebnisse zu reden und Fragen zu stellen. Uns ist es dennoch wichtig über die Zeit, die Erlebnisse, die Folgen und den Widerstand zu sprechen. Wir sehen es als unsere Verantwortung, diese Geschichten weiter zu tragen um ein Bewusstsein über die Realität dieser Frauen zu schaffen. Wir wissen aber auch, dass es ein schmerzhaftes Thema ist und finden uns selbst deswegen auch immer wieder in eigene Unsicherheit versetzt.
Wir führen viele Interviews, haben ein klares Projekt vor Augen und werden daher meist auch offiziell als Delegation angekündigt, die Interviews und Gespräche führen möchte. Bisher ist es daher oft ein recht formeller Rahmen geworden, in welchem wir mit den Frauen zusammen saßen. An einigen Abenden sind noch einzelne, eher vertraute, Gespräche entstanden, aber das war nicht die Regel. Außerdem ist immer noch eine Übersetzerin sozusagen zwischen uns und unsere Gesprächspartner_innen, was natürlich zu einer gewissen Distanz führt.
Gleichzeitig werden wir immer wieder von der Erkenntnis überwältigt, wie fern wir all dem waren und auch immer noch sind. Wir waren an den Orten, an welchen Daesh geherrscht, gemordet, gefoltert hat. Wir haben in Girê Sipî einen auf der Mitte der Straße gebauten Käfig gesehen, wo Gefangene von Daesh ausgestellt wurden. Sehen aus Bäumen gepflanzte „Allah“-Schriftzüge von Daesh an einem riesigen Hang. Wir stellen uns vor, wie der enorme Staudamm bei Tabqa unter der Hand von Daesh gewesen ist und können das Erfahrene dennoch nicht begreifen. Viele von uns kennen militärischen Krieg oder einen faschistischen Zustand wie unter Daesh, eben nicht.

Viele Frauen erzählen uns von dem, was sie unter Daesh erlebt haben.
Die Grausamkeiten, die uns erzählt werden, lösen in uns Wut und Fassungslosigkeit aus. Jedes Gespräch verdeutlicht, dass Folter und Mord zum damaligen Alltag der Frauen gehörte.
Folgendes sind nur einzelne Beispiele, die uns Frauen aus Raqqa erzählt haben. Ein paar beschriebene Dinge haben wir in Tabqa gesehen oder erzählt bekommen. Es gibt uns nur einen kurzen Einblick in das, was geschehen ist.

Hevala Merian zum Beispiel erzählt uns von einer Situation am Euphrat, die ihr nicht mehr aus dem Kopf geht. Dort wollten Daesh Männer zwei ezidische Frauen gegen ihren Willen mitnehmen. Die eine Frau stürzte sich daraufhin in den Tod, während die andere entführt wurde. Vielleicht erwartete sie der „Frauenmarkt“. Die Realität vieler ezidischer Frauen war es, zusammen mit Schafen auf dem Markt verkauft zu werden. Für sie war ab dem Zeitpunkt klar: „Wir leben in einer Welt des Todes“.
Auch der Kleiderzwang von Frauen spielt in den Erinnerungen eine große Rolle. Zum Beispiel erzählt eine Freundin uns von einer Frau, die „nicht ordnungsgemäß“ gekleidet auf der Straße rumgelaufen sei. Ihr wurde eine Hand und ein Fuß abgehakt. Vielen weitere Frauen haben Ähnliches erlebt.
Wir reden mit Hevala Emira. Nach dem Raqqa befreit wurde, ist sie dem Frauenrat beigetreten. Sie ist in der Komission die sich um Menschen mit Beeinträchtigungen kümmert. Viele Menschen kommen zu ihr, die Körperteile verloren haben. Die einen im Krieg, die anderen aufgrund von Daesh.
Sie sagt, dass sie in der Zeit unter Daesh viel Leid und Schmerz erfahren hat. Nun will sie mit eigener Kraft Frauen unterstützen. Auch sie selbst hat viel Unterstützung von Frauen bekommen, sagt sie.
Vor allem die Mütter in Raqqa hatten viele Schwierigkeiten, erzählt uns Hevala Besê. Viele Kinder wurden entführt und die Mütter waren auf verzweifelter Suche nach ihnen. Ihr eigener 15-jähriger Sohn wurde von Daesh entführt. Eines Tages kam Daesh ohne Grund zu ihnen nach Hause und hat ihn mitgenommen. Schlussendlich hat sie dafür gesorgt, dass er freigelassen wurde. Danach entschied sie sich mit ihrem Sohn Raqqa zu verlassen. Nun ist sie wieder zurück.
Für viele sei das Schlimmste was passieren kann, ihr eigenes zu Hause, das was sie selbst aufgebaut haben, zurück lassen zu müssen.

Es fällt uns schwer vorzustellen, mit diesen Erfahrungen zu leben. Und doch tun es diese Frauen. Und wie sie das tun! Sie strahlen uns an, wirken erfüllt von Lebensfreude. Wirbeln durch die Gegend und geben uns wahnsinnig viel Kraft. Empfangen uns mit einer Wärme, wie sie uns in Europa oft fehlt. Sie arbeiten meistens kollektiv mit anderen Frauen mit ähnlichen Erfahrungen an Orten der Selbstverwaltung und der neu aufgebauten Frauenstrukturen. Sicher trägt das auch einen Teil zum Umgang mit dem Erlebten bei, zumindest vermuten wir das. Wir wissen nicht, wie es den Frauen und auch anderen Menschen geht, die in weniger kollektiven Räumen leben. Wir können nur hoffen, dass diese kollektiven Räume mehr werden und damit ein gemeinsamer Umgang noch mehr wachsen kann.

Fest steht: nach der Befreiung von Raqqa haben die Frauen angefangen eine eigene Kraft zu entwickeln. Sie beeindrucken uns sehr!

https://anfdeutsch.com/frauen/meryem-aus-raqqa-mein-traum-wurde-wahr-8415

https://anfdeutsch.com/frauen/mein-leben-hat-sich-zu-100-prozent-veraendert-8433

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