…aber der Kampf geht weiter!
13.03.2019
Seit ein paar Wochen haben wir die Reise in die Demokratische Konföderation Nord- und Ostsyrien beendet. Somit kommt jetzt der letzte Blogbeitrag unserer Delegation.
Mit dem Blog konnten wir nur einen kleinen Teil der vielen Facetten und Perspektiven dieser Revolution zeigen. Wir haben dennoch gesehen warum diese Revolution eine Revolution der Frauen ist, denn die autonome Frauenorganisierung ist eine Grundvoraussetzung für die Alternative, die hier geschaffen wird. Wir hatten die Möglichkeit in eine feministische Zukunft zu blicken und anders darüber nachzudenken, was diese Revolution auch für uns bedeuten kann.
Als Abschluss haben wir uns für ein Interview mit der Internationalistin Mika aus Katalonien entschieden. Unserer Meinung nach gibt es einen guten Einblick in das was die Revolution für uns in Europa bedeutet und welche Perspektiven sich daraus ergeben. Außerdem hat sie eine schöne und ehrliche Sicht auf die Widersprüche, denen sie begegnet ist und wie sich auch einige Widersprüche in ihrer Zeit hier aufgelöst und verändert haben.
Erzähl doch erstmal etwas von dir. Woher kam die Entscheidung nach Rojava zu gehen? Welchen Bezug hattest du zu Rojava und zur kurdischen Bewegung bevor du dich entschieden hast hierher zu kommen?
Mika: Ich bin Mika und komme aus Katalonien. Mein Name bezieht sich auf eine Internationalistin aus Argentinien, die in der Revolution von 1936 im spanischen Staat gegen den Faschismus kämpfte. Ich komme aus einer katalanischen, anarchistischen Familie. Meine Eltern sind beide Anarchisten.
Seit ich klein bin, bin ich auf der Suche nach Antworten auf welche Art und Weise wir leben sollten. Meine ersten Antworten erhielt ich in der Geschichte meines eigenen Landes. Ganz konkret in der Revolution von 36, die von den anarchistischen Freund_innen angeführt wurde. Ich habe mich dabei immer gefragt, was ich getan hätte, hätte ich damals gelebt. Hätte ich die ethische und revolutionäre Verantwortung für diese Revolution übernommen?
Meine nächsten Antworten fand ich in der praktisch gelebten Militanz, die in meinem Stadtteil Nou Barris stattfand. Da habe ich die Wichtigkeit einer Gesellschaftsorganisierung verstanden. Nou Barris ist eines der Arbeiter*innenviertel in Barcelona. Dort habe ich auch gesehen, dass die Bevölkerung in der Lage ist sich zu organisieren, wenn sie ein gemeinsames Ziel hat. Aber als Anarchistin kam ein Moment, wo ich die Grenzen meines Stadtviertels gefühlt habe und es mir zu eng wurde. Ich musste darüber hinausgehen und weitere Antworten suchen. Also verließ ich mein Viertel mit der Einstellung, dass die soziale Basis, die in meinem Viertel existiert, auf andere Stadtviertel und Städte von Katalonien erweitert werden muss. Ich radikalisierte mich in anarchistischen und feministischen Kreisen Barcelonas. Aber die Jahre vergingen und ich stellte fest, dass ich noch immer keine Antworten gefunden hatte. Die sozialen Beziehungen, die in meinem Stadtteil existierten, fand ich nicht in der anarchistischen und feministischen Bewegung Barcelonas wieder.
Weder in Spanien noch in Katalonien gab es eine organisierte kurdische Bewegung. Doch durch den Widerstand von Kobanê lernte ich die kurdische Bewegung kennen. Ich dachte damals, wenn es tatsächlich eine Revolution in unserer Zeit gibt, dann sollte ich mich ihr annähern und schauen, was sie vorschlägt.
Wenn ich davon spreche, wie ich den kurdischen Freiheitskampf kennenlernte, muss ich auch von meinem Freund Pastor reden. Pastor ist auch aus Katalonien und war 6 Monate in Rojava. Als er zurück kam, lernten wir uns kennen und er motivierte mich dazu mich näher mit dem kurdischen Befreiungskampf auseinanderzusetzen. Er war es auch, der mich auf meine erste Bildung einlud, die eine Woche lang das Thema des demokratischen Konföderalismus und Jineolojî behandelte. Als ich in der Bildung war, erhielt ich einen Anruf, dass sich mein Freund Pastor umgebracht hat. Mein Zugang zur Bewegung ist somit ein ideologischer, aber gleichzeitig auch ein sehr emotionaler. Ich beschloss die Erinnerung an den toten Freund aufrechtzuerhalten und ging in die Arbeiten der „plataforma azadî“, das ist die Solidaritätsplattform von Katalonien.
Innerhalb der „plataforma azadi“ traf ich auf Antworten, die ich in der anarchistischen Bewegung nicht gefunden hatte. Durch den Kontakt zur kurdischen Bewegung eröffneten sich mir neue Wege. Was mir in meinem Stadtteil so eng erschienen war, erkannte ich nun auf einer globalen Ebene. Ich sah, dass die Kurd_innen mit ihrem Kampf einen Weg und eine Form fanden, um diese revolutionäre soziale Basis und Organisierung in alle Stadtteile Barcelonas, nach ganz Katalonien und darüber hinaus zu bringen.
Besonders seit dem Beginn der Angriffe auf Afrîn spürten wir, dass mit jedem Angriff auf Afrîn, auch jede von uns angegriffen und getroffen wurde. Ich sagte mir, dass es notwendig sei die Praxis und das Leben dieser Revolution kennenzulernen. 1936 kamen tausende Internationalist_innen aus der gesamten Welt nach Katalonien, um gegen den Faschismus zu kämpfen. Als ich das verstanden habe, dass der Internationalismus Teil meiner eigenen Geschichte ist, habe ich beschlossen nach Rojava zu gehen. Ich kam nicht von außerhalb um zu helfen, sondern sah mich als Teil des Prozesses, mit dem auch ich wachsen und ein Teil zu seiner Entwicklung beitragen möchte.
Wie haben sich deine Erwartungen und der Zugang zur Bewegung geändert seitdem du hier bist?
Mika: Ich kam hierher um zu lernen und habe Dinge gelernt, die ich mir niemals vorstellen konnte. Ich habe die Essenz der Gesellschaft kennengelernt, sogar meine eigene. Zum Beispiel sehe ich in jeder Mutter hier meine eigene Mutter. Ich habe gelernt, wie dynamisch eine Gesellschaft sein kann und sich je nachdem was notwendig ist, organisieren kann. Als beispielsweise die Drohungen des türkischen Staates anfingen, ist die gesamte Gesellschaft zusammengekommen. Die, die nicht mit Waffen umgehen konnten, haben angefangen, das zu lernen. Die, die nicht wussten, wie man erste Hilfe leistet, haben das gelernt. Und alle mit der bewussten Entscheidung zu bleiben und ihr Land und ihr Projekt zu verteidigen.
Ich habe auch gelernt was Freundschaft (Hevaltî) wirklich bedeutet. Freundschaft, die uns miteinander verbindet und ausmacht, dass wir jetzt in Rojava sind. Unter uns befindet sich auch die Freundin Leyla Güven, die sich gerade in einem unbefristeten Hungerstreik befindet. Das bedeutet auch Hevaltî. Jemand kann am anderen Ende der Welt sein, aber wenn wir uns auf demselben Weg befinden, sind wir immer zusammen.
Was ich hier auch verstanden habe ist die Dialektik zwischen Leben und Tod. Ich erinnere mich besonders an einen Tag, als ich auf der Eröffnungsfeier einer Grundschule war. Die Schule war für kleine Kinder, die gerade am Anfang ihres Lebens stehen. Ich verließ den Ort und ging zu einer Beerdigung von drei Freunden, die ihr Leben im Kampf um Deira-Zor verloren hatten. Alles war am selben Tag – die, die gerade ihr Leben anfangen und die, die gerade ihr Leben verloren haben. Diese Freunde sind auch für das Leben der kleinen Kinder gestorben. Diese Dialektik zwischen Leben und Tod ist hier in Rojava sehr deutlich. Bei den Erinnerungsfeiern weinen alle Mütter, weil alle Mütter gefallene Kinder haben.
Es gibt viele Internationalist_innen, die hier sehr enttäuscht sind, weil ihre hohen Erwartungen enttäuscht werden. Sie haben viele Bücher gelesen und über die Revolution diskutiert. Aber hier gibt es natürlich auch Fehler, klar gibt es Fehler. Die Revolution ist ein lebendiger Prozess und in diesem Prozess voller Leben gibt es Fehler. Deswegen machen wir auch eine Revolution. Vor allem habe ich hier gelernt, dass diese Revolution vor allem eine mentale ist. In der kurdischen Gesellschaft haben Gemeinschaft und Familie an sich schon einen starken Wert. Viel mehr geht es darum, die Mentalität zu verändern, sie zu befreien. Wenn wir sie kurzfristig betrachten, sehen wir viele Fehler. Aber wenn wir langfristig denken, ist das der Weg der gegangen werden muss, um zum Erfolg zu kommen: die Mentalität zu verändern. Ich sehe hier auch die Bestätigung, dass es notwendig ist, dass die Gesellschaft und die Revolutionär_innen eins sind. Die Gesellschaft ist die Basis der Revolutionär_innen. Ich erinnere mich an einen Tag, als ich im Haus einer Familie war und der Mann der Familie sagte mir: „Die Gesellschaft ist ein Fluss und die Revolutionär_innen sind die Fische im Fluss.“
Kannst du darauf eingehen, was wir von der Revolution in Rojava für die Kämpfe zu Hause lernen können? Die Befreiungsideologie kommt ja aus einer anderen gesellschaftlichen Realität als unsere – also einerseits Kurdistan als Kolonie und andererseits Westeuropa als kapitalistisches Zentrum.
Mika: In Europa haben wir Angst um ein Leben, was gar kein wirkliches Leben ist. Als Weihnachten Erdogan mit Angriffen drohte, stellte ich mir die europäischen Straßen voller Weihnachtslichter vor. Alle Menschen sind auf der Straße, um einfach nur zu konsumieren. Währenddessen haben sich hier die Menschen vorbereitet ihr Leben zu verteidigen. Es kam mir vor, als ob wir in Europa ein Leben ohne Sinn leben. Es ist also sehr notwendig zu verstehen, was Leben ist und wir sollten uns die Frage stellen, wie wir leben möchten.
Wir müssen uns auch vom Staat trennen, nicht nur auf einer physischen Ebene. Das machen ja auch anarchistische und feministische Bewegungen zum Teil oder die Hausbesetzerszene. Wir besetzen, wir gehen containern, machen uns unsere Kleidung selbst. Auf der physischen Ebene wissen wir uns zu lösen, aber es ist notwendig sich auch mental zu trennen.
Hier bewegt sich das revolutionäre Projekt mit der Gesellschaft. Es ist nicht so, dass die Revolutionär_innen in einer Ecke ihre Theorien ausarbeiten, die nicht mit der sozialen Realität der Menschen einhergehen. Sondern hier entwickelt sich der Prozess Schritt für Schritt mit der Gesellschaft, mit den Bedürfnissen der Gesellschaft und mit ihrem Rhythmus. Das ist etwas, was wir in Europa lernen können. In Europa denken wir häufig, dass wir Revolutionär_innen sind, dass wir Anarchist_innen sind, die den Menschen etwas lehren können, aber die Gesellschaft könne uns nichts lehren. Wir müssen diese Einstellung überwinden. Wir müssen die Gesellschaft kennenlernen, wir müssen ihre Bedürfnisse verstehen und die Gesellschaft muss unseren Vorschlag kennenlernen.
Was wir noch mit nach Europa in unsere Kämpfe mitnehmen können, zumindest kann ich da für Katalonien sprechen, ist, dass wir unsere Angst vor Führung verlieren sollten. Ich verstehe, dass zumindest im Deutschen dieses Wort sehr kompliziert ist. Also mit Angst vor einer Führung meine ich zum Beispiel, die jetzige Situation in Katalonien, die ein Chaos ist. Die Menschen wissen, dass sie keinen spanischen Staat wollen, aber sie wissen auch nicht konkret, was sie wollen. Die katalanischen Politiker_innen haben sich delegitimiert. Die Menschen mobilisieren auf die Straßen und es gibt Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Zukunft von Katalonien ist sehr ungewiss, es ist nichts klar, weil niemand die Bewegung, die es gibt, anleitet und sagt: „Lasst uns dahin gehen, lasst uns diesen Weg verfolgen.“ Alle Menschen haben Angst, das zu machen. Wir haben ein Bild von Führung als eine autoritäre Figur und ich verstehe, warum das so ist. Aber wenn du dich der kurdischen Bewegung annäherst und die Figur des Rêber Apo kennenlernst, verstehst du, dass alle seine Vorschläge immer auf Freiheit basieren. Vor allem über die Befreiung der Frau. Du verstehst, dass eine andere Form von Führung möglich ist. Und das wir eine andere Form von Leitung lernen sollten und den Mut zu haben sie auch auszuführen.
Es ist auch sehr wichtig, das Thema der freien Persönlichkeitsentwicklung in unsere Länder mitzunehmen. Durch Methoden wie Kritik und Selbstkritik. Ich weiß nicht, ob in der linken Szene in Europa generell, aber zumindest im spanischen Staat kritisiert niemand andere Personen, weil es die Idee einer individuellen Freiheit gibt, aber so können wir keine kollektiven Projekte aufbauen. Wir müssen lernen, Kritik wie einen Schatz anzunehmen. Wir sollten lernen zu verstehen, dass wenn wir fähig sind freie Persönlichkeiten aufzubauen, auch in der Lage sind damit unsere Freund_innen und die Gesellschaft mitzunehmen.
Du bist in den Arbeiten der Jineolojî. In Europa ist es sehr auffällig, wie wenig sich Feministinnen auf die Revolution in Rojava beziehen. Wie würdest du den Feminismus in Europa derzeit bewerten und wo siehst du Widersprüche?
Mika: Die Kritiken, die ich am Feminismus habe, sind genau dieselben Kritiken, wie ich sie auch an anderen Bewegungen, wie dem Anarchismus oder der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung, habe. Es ist vor allem die Kritik am Individualismus und dass wir so weit weg sind von der Gesellschaft. Ganz konkret hat der Feminismus, zumindest in Katalonien, viel Kraft. Es gibt sehr viel Potenzial, um eine revolutionäre Bewegung zu werden, die zu einer wirklichen Transformation führen kann. Aber in der Praxis wird dieser Schritt nicht gegangen.
Es gibt eine Kritik der Jineolojî am Feminismus, welche ich erst hier verstanden habe. Es ist der Umstand, dass vor allem innerhalb des autonomen radikalen Feminismus, den ich aus Katalonien kenne, die Einstellung vorherrscht, dass Männer zurückgewiesen werden müssen.
Einer der ersten Schritte der kurdischen Frauenbewegung war die Theorie der Loslösung. Das heißt sich physisch und psychisch von den Männern zu trennen. Aber das ist nur der erste Schritt, die erste Phase. Der nächste Schritt ist, dass du mit einem starken Bewusstsein der Freiheit und der Organisation der Frauen in die gemischten Strukturen zu gehen. Denn wenn die Frauen ihre Schritte zur Befreiung gegangen sind, aber der Rest der Gesellschaft am gleichen Punkt verharrt, kann man nicht davon sprechen, dass eine Freiheit erreicht wurde. Deswegen denke ich, dass es notwendig ist, diesen zweiten Schritt gehen zu wollen. Es gibt viele Feminist_innen, die diesen Schritt nicht tun, nicht weil sie sich nicht trauen, sondern weil sie einfach nicht wollen. Sie sehen es nicht als notwendig an. Das ist eine der Sachen, an der sich mein Standpunkt verändert hat. Denn ich komme auch aus einem radikalen, autonomen Feminismus in Barcelona und niemals hätte ich gedacht, dass ich jetzt so rede. Man muss vor allem verstehen, dass Veränderung durch eine Einstellung geschieht, durch unser Miteinander – Hevaltî (genossenschaftliches Miteinander/Freundschaft). Durch unsere Art und Weise mit unserem Umfeld in Beziehung zu treten.
Meine Kritik an radikalen Bewegungen in Europa ist auch, sich nicht ständig in einen Abwehrkampf zu begeben und alles zurück zu weisen oder die Konfrontation suchen. Wir sollten vielmehr lernen, in der Lage zu sein, etwas zu erschaffen.
Das erste Paradigma der Frauenbefreiungsideologie ist „welat parez“, übersetzt so etwas wie Heimatverbundenheit. Wie hat die Auseinandersetzung damit deinen Blick auf Internationalismus beeinflusst und was ist dein Verständnis von Internationalismus allgemein?
Mika: Öcalan sagt, dass es notwendig ist zuerst eine gute welat parez zu sein, um eine gute Internationalistin zu sein. In meiner Zeit hier habe ich das verstanden. Denn durch meine Annäherung an die kurdische Bewegung ist meine Liebe zu meinem Land, meiner Geschichte gewachsen. Gleichzeitig wächst mit der Liebe zu meinem Land, meiner Geschichte auch die Liebe zur Geschichte und dem Land der kurdischen Bewegung. Das ist genau das, was Abdullah Öcalan sagt, dass es notwendig ist sich mit der eigenen Geschichte des Landes, der Kultur auseinanderzusetzen um sie wert zu schätzen, um fähig zu sein Kämpfe außerhalb zu führen.
Deswegen ist für mich Internationalismus Liebe. Wie ich schon sagte, ich komme aus Katalonien, wo 1936 tausende Internationalist*innen aus der ganzen Welt verstanden, dass sie eine Verantwortung als Revolutionär*innen haben, nach Katalonien zu gehen, um gegen den Faschismus in Katalonien zu kämpfen. Als Revolutionärin aus Katalonien bin ich Teil der Geschichte und es ist auch meine Verantwortung dahin zu gehen wo eine Revolution für ein freies Leben ist. Man muss bereit sein sich zu beteiligen. Wir müssen erkennen, dass wir uns in einer neuen Phase des Internationalismus befinden. Wir bauen gerade eine neue Form des Internationalismus auf und die Frauen sind die Vorreiterinnen dieses neuen Internationalismus. Wir müssen uns der Verantwortung bewusst werden, die wir haben.