Bericht zur Fachtagung „Gender-Studies trifft Jineolojî“

30.10.2020

Wie viel Gesellschaftskritik braucht eine feministische Wissenschaft?

Am Freitag, den 30.10.2020, veranstalteten das Marie Jahoda Center for International Gender Studies – Ruhr Universität Bochum, die Hochschule Emden/Leer und das Netzwerk kurdischer Akademiker*Innen in einem digitalen Rahmen eine Fachtagung zur Begegnung von Gender Studies und Jineolojî. Letztere ist eine neue Wissenschaftsform aus der kurdischen Bewegung, die Wissenschaft (-logi) der Frau (jin) und des Lebens (jiyan). Die Beiträge der verschiedenen Referent*Innen sollten sowohl die Möglichkeit bieten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Wissenschaftsformen aufzuzeigen, Kritiken zu betrachten und zu erläutern, als auch Gedanken zu Angemessenheit und Intentionen verschiedener Zugänge zu einer Kritik der gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse anzuregen. Die Tagung bestand aus sechs Redebeiträgen und gliederte sich in zwei Abschnitte, die sich jeweils auf den Vor- und Nachmittag verteilten.

Eine kurze Einführung in die Jineolojî und Frauenbefreiungsideologie

Dr. Dilar Dirik (Soziologin, Universität Oxford) begann mit einem kurzen historischen Abriss der Kurdischen Befreiungsbewegung und erläuterte dessen Tradition der kollektiven Forschung und des gemeinsamen Theorisierens. Als wesentlichen Aspekt betonte sie dabei die Wichtigkeit der Frauenbefreiungsbewegung[1] und der autonomen Organisation der Frauen in jeglichen organisatorischen Sphären. Zum Erreichen einer kollektiven Identität der Frau für die autonome Organisierung ist die Kombination theoretischer Ideen mit praktischen Umsetzungen notwendig. Teil davon sind die Theorie der Loslösung aus patriarchalen Strukturen und Denkweisen, die Frauenbefreiungsideologie, das Projekt der Transformation des Mannes und das Projekt des freien Lebens. Die Entwicklung der Frauenbefreiungsideologie startete bereits in den 1990er Jahren und findet in den letzten 10 Jahren neue Formen der kollektiven Wissensaneignung, Wissensproduktion und Wissenschaftskritik in der Jineolojî. Die Jineolojî wurde erstmals von Abdullah Öcalan in seinem Werk „Soziologie der Freiheit“ erwähnt und kann im Deutschen als die „Wissenschaft der Frau und des Lebens“ übersetzt werden. Entgegen der autoritär und patriarchal geprägten herkömmlichen Geschichtsschreibung und Wissenschaft, formuliert die Jineolojî eine Kritik an dieser Wissenschaft. Ausgehend von dieser Kritik werden verschiedenste gesellschaftliche Bereiche aus einer anti-autoritären und antipatriarchalen Perspektive analysiert mit dem Ziel, ein freiheitliches Zusammenleben beschreiben, als auch leben zu können. Die Perspektive baut auf den Prinzipien der Frauenbefreiungsideologie auf, somit auf der Liebe zur Heimat (hier internationalistisch zu verstehen als Kultur, Natur und Schutz gegen Faschismus, Patriarchat, Kolonialismus usw.), der autonomen Organisiertheit, dem freien Denken und freien Willen, Kampf und Widerstand und zuletzt einer Ästhetik entgegen der Reduzierung der Frau als sexualisiertes Objekt. Die Ansätze sind über die Kurdische Bewegung hinaus umsetzbar und stärken die Entwicklung einer revolutionären Haltung in allen Lebensbereichen gegen eine Vereinnahmung durch Liberalismus und Patriarchat. Die Jineolojî soll keine ‚Alternative‘ zum Feminismus darstellen, sondern auf dem Erbe aller Frauenkämpfe aufbauen. Ziel ist es, die Frauenkämpfe international zu stärken.

Eine kurze Einführung in die Geschichte und Bedeutung der Gender Studies

Im Anschluss führte Dr. Christine Löw (Politikwissenschaftlerin, Universität Frankfurt a.M.) in die Geschichte der Gender Studies ein und betrachtete auch in Bezug auf deutsche Frauen*bewegungen vor allem das Verhältnis von Theorie und Praxis. Zuerst stellte sie die Verbindung von Frauen*bewegungen (Handlungen der Akteur*Innen in politischen Kämpfen), Feminismus (politische Haltung) und Gender Studies (wissenschaftliche Reflexionsformen) dar.

Nach einer kurzen Orientierung an den ‚drei Wellen‘ des Feminismus differenzierte Dr. Christine Löw verschiedene Stufen der Institutionalisierung der Geschlechterforschung in der Wissenschaft. Es begann 1976-1982 mit den Sommeruniversitäten für Frauen* aus der Frauen*bewegung und aus akademischen Institutionen. Die Durchsetzung von Lehrveranstaltungen zu verschiedenen Auseinandersetzungen mit Geschlecht und geschlechtlichen Machtverhältnissen. Die Professionalisierung geschah 1989–1997 mit der expliziten Umbenennung der Frauen*- bzw. Geschlechterforschung zu Gender Studies. Dadurch wurden Geschlechterperspektiven in Studiengängen und der Studienordnung implementiert. Der Eintritt in die anerkannte wissenschaftliche Disziplin birgt allerdings auch die Gefahr der Disziplinierung wie auch die Festschreibung von Wissen (Kanonisierung), wodurch Machtverhältnisse reproduziert werden, anstatt sie aufzulösen. Des Weiteren betrachtete Dr. Christine Löw das Verhältnis von Praxis und Theorie. Auch bei deutschen Frauen*bewegungen in den 1970er Jahren war Autonomie ein wesentlicher Bestandteil der politischen Auseinandersetzung, für die Bewusstseinsbildung, als Schutzraum und zur Formierung und Organisierung. In den Gender Studies als akademischer Disziplin verschwindet diese Autonomie, denn es wird sich nun an wissenschaftlichen Standards orientiert, obwohl diese gleichzeitig kritisiert werden. Denn akademische Standards sind durch patriarchale und autoritäre Strukturen geprägt und eine Orientierung an diesen reproduziert diese Verhältnisse. Auch wird die Orientierung an Berufsqualifizierung, die Akademisierung und Entpolitisierung durch Anpassung kritisiert. Dabei sollte das Ziel einer kritischen Gesellschaftstheorie die Emanzipation von Machtstrukturen sein. Insgesamt fasste Dr. Christine Löw zusammen, dass die Gender Studies die Konstruktion des Geschlechtes transdisziplinär in verschiedenen Zusammenhängen und die Auswirkungen auf politische Macht analysieren und bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten kritisieren. Abschließend stellte sie den aktuellen Stand und einen zukünftigen Ausblick auf die Disziplin der Gender Studies vor. Bisher sind die Auseinandersetzungen hauptsächlich in gesellschafts- und geisteswissenschaftlichen Studiengängen zu verorten. Bei Studiengängen wie Jura, Medizin, BWL und naturwissenschaftlichen Studien sind diese Themen noch nicht so verankert und wirksam im Lehrplan. Die stetige Zunahme der Auseinandersetzung an Hochschulen und Universitäten kann aber demokratisierende Momente mit sich bringen, da Machtstrukturen aufgedeckt und in Frage gestellt werden. Besonders wichtig in Anbetracht der Angriffe von rechts, die den Gender Studies eine ‚Politisierung der Wissenschaft‘ vorwerfen. Ein Ziel wäre es, sich auch im Rahmen der Gender Studies wieder radikale Systemkritik aneignen zu können.

Perspektive aus Rojava

Zum Schluss des ersten Abschnittes hielt Şervîn Nûdem (Jineolojî Akademie Qamislo, Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien) ein Impulsreferat zur Verbindung dieser unterschiedlichen Ansätze und beschreibt die Arbeit der Frauen in Rojava. Dabei betonte sie, dass dieser Beitrag aus dem kollektiven Austausch und Diskussion mit den anderen Frauen der Akademie entstanden ist. Şervîn Nûdem erklärte, dass Gender Studies in Rojava eher unbekannt sind, der Diskurs der kurdischen und arabischen Frauen drehe sich dabei dann um die Implementierung von Gender Studies durch amerikanische Institute, welche sich nicht an den Bedürfnissen der Frauen vor Ort orientieren und imperialistische und rassistische Strukturen mit sich bringen. In Rojava werden stattdessen Modellen entwickelt, die jenseits von Staat und Macht existieren können. In ihren Forschungen wollen die Frauen die Beziehung zwischen Wissenschaft, Leben und der Frauenbewegung aufrechterhalten. Ihr persönlicher Kontakt und Austausch zu den vielen Frauen in den Gebieten Rojavas führt zu gegenseitigen Prozessen der Reflexion und Wissensbildung, wodurch die Frauen eine Schaffens- und Willenskraft entwickeln und sie in der Möglichkeit und dem Recht bestärkt werden, zu autonom handelnden Subjekten zu werden. Das Frauendorf Jinwar ist ein Beispiel dafür, wie das Leben nach solchen Prinzipien realisiert werden kann. In Rojava wird Jineolojî als Schul- und Studienfach angeboten und dessen Inhalte in den Regionen autonom gestaltet. Die Lehre der Jineolojî soll daran mitwirken, den Demokratischen Konföderalismus aufzubauen.

Die drei Beiträge befassten sich auch mit der Definition der Frau. In den Gender Studies wird die Frau vor allem in ihrer sozialen Konstruktion definiert und betrachtet, wohingegen sie in der Jineolojî als eine Gesamtheit der Existenz in Verbindung zu kulturellen, politischen und ökonomischen Dimensionen verstanden wird. So soll eine Rolle der Frau mit nicht nur einem Begriffsverständnis entstehen. Für beide Wissenschaftsformen ist die Frage relevant, inwiefern der Begriff und die Kategorie Frau in ihrer Bezeichnung notwendig sind, um politische Kämpfe führen zu können. Die Analyse über geschlechtliche Realitäten aus verschiedenen Perspektiven ist wesentlich. Es darf aber nicht nur bei der Analyse gesellschaftlicher Missstände belassen werden, sondern es sollten darüber hinaus Handlungsoptionen entwickelt werden, um eine Alternative zu herrschenden patriarchalen Verhältnissen zu verwirklichen. Die Jineolojî bietet dafür eine Basis. Die Präsenz von Gender Studies und die Möglichkeit der akademischen Auseinandersetzung mit geschlechtlichen Unterdrückungsmechanismen bleibt weiterhin wichtig aber könnten sich für die Wiederaneignung einer radikalen Systemkritik, die auch in der Praxis Handlungsmöglichkeiten bietet, an Ansätzen der Jineolojî orientieren.

Nach einer einstündigen Pause wurde die Tagung mit zwei weiteren Redebeiträgen und eine anschließenden Diskussion fortgesetzt. Der zweite Teil der Tagung befasste sich mit Genderfragen im politischen Kontext und wie Verbindungen zum Ziel der radikalen Veränderung der Gesellschaft geschaffen werden können.

Havin Güneşer von der Internationalen Initiative Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan, referierte aus der inneren Perspektive von schwierigen, notwendigen Veränderungsprozessen innerhalb der Kurdischen Bewegung bzw. innerhalb der PKK.

Sie sprach über die zunehmende Beteiligung von Frauen in allen Bereichen des Kampfes, der anfänglichen Unterdrückung von Frauen innerhalb der Strukturen der Bewegung und die notwendig erkämpften Veränderungen. Diese erreichten Sie mit wachsendem Selbstbewusstsein und der Rückendeckung von Abdullah Öcalan durch die Schaffung eigener, autonomer Frauenstrukturen, wie der Frauenarmee, Frauenakademien, Partei etc. Im letzten Teil ihres Vortrages beschrieb sie die Wichtigkeit der von Öcalan stammenden These, das Mindset des dominanten Mannes zu töten. Der Prozess der Veränderung der Männer sei so schwer gewesen, da diese viele Privilegien besaßen und sie nicht von ihnen abrücken wollten. Innerhalb der PKK wurde jene Veränderung bewirkt, als gesehen wurden, dass die Frauen, die sich der Partei anschlossen, nicht mehr in ihr altes Leben zurückkehren wollten. Aus seinen Analysen schlussfolgerte Abdullah Öcalan, dass der unterdrückende Staat die institutionalisierte Männlichkeit sei. Diese Unterdrückung spiegle sich in der Familie wieder, da die herrschende Hand des Mannes über die gesamte Familie bestimmt. So muss der Staat und ebenso das bestehende patriarchale Familienkonstrukt überwunden werden.

Feminismus – Kritik und Herausforderung

Im letzten Beitrag referierte Dr. Muriel Athenas, Historikerin an der Ruhr-Universität Bochum, über den Feminismus und dessen Kritik und Herausforderungen. Dabei ging sie zuerst auf die Geschichte des Feminismus ein und löste sich dabei von normativer und linearer Geschichtsschreibung. Die Geschichte des Feminismus sei ein komplexes Gefüge, die in einem Korrelationssystem zueinander stehen und sich zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich bedingen. Um die Kritik an der Vereinfachung, „Verwestlichung“ und linearen Geschichtsschreibung zu verdeutlichen, wurde Donna Haraway zitiert: „Geschichte ist eine Erzählung, die sich die Fans westlicher Kultur gegenseitig erzählen. Wissenschaft ist ein anfechtbarer Text und ein Machtfeld, der Inhalt ist die Form. Basta.“ Durch ein hegemoniales Narrativ wird direkt ein bedeutsamer Teil der Geschichtsschreibung ausgeschlossen, was zu einer Vereinfachung und somit unvollständigen Geschichtsschreibung führt. Dr. Muriel Athenas forderte ein Anzweifeln von Herrschafts- und Machtverhältnisse und eine Zurückgewinnung der Selbstbestimmtheit. In der Geschichte der Feminismen sei die Vielfältigkeit die grundlegende Gemeinsamkeit.
Weiter im Vortrag ging sie auf den Feminismus in Theorie und Praxis ein. Dabei liege dem Feminismus ein Begehren zu Grunde, das den Wunsch nach Transformation und Veränderung der bestehenden Verhältnisse ausdrückt. Man dürfe jedoch in keine Romantisierung verfallen. Als Beispiel wurden die Kämpfe der „Third World Women“ im angloamerikanischen Raum der 1980er Jahre thematisiert. Diese Frauen* unterlagen einer mehrfach Unterdrückung aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Gesellschaftsstatus, ihrer Sexualität, etc. Als Folge wurde damals (wie heute) Kritik an dem weißen Mittelschichtsfeminismus geübt, als Reaktion auf diese Unterdrückung entwickelte sich die Identitätspolitik der POC Frauen*. (Als Beispiel wurde das „Combahee River Collective“ genannt, das aus lesbischen POC Frauen* bestand). Die Taktik der „Third World Women“ lag unter anderem darin, Aufmerksamkeit durch große Veranstaltungen zu erregen. Dadurch wollten sie ihre feministische Politik in einen öffentlichen Diskurs bringen und die „first“ und „third world Women“ miteinander verbinden. Als eine wichtige Akteurin der mehrfach unterdrückten Frauen* wurde die indische Feministin Chandra Talpade Mohanty kurz vorgestellt. Zum Abschluss kam die Referentin zu der Forderung nach einer feministischen Epistemologie bzw. Wissenschaft. Dabei schlussfolgerte Dr. Muriel Athenas, dass die Kategorie Geschlecht als die Manifestierung einer gesellschaftsordnenden und -normierenden bipolaren Einteilung als Macht- und Ordnungsprinzip gespiegelt werden müsse. Denn nur eine solch gelagerte Forschung in Verbindung mit sozialen Bewegungen könne die Gesellschaft in unserem Sinne bewegen.

Verbindungen und Unterschiede zur Jineolojî

Im Anschluss wurde die Diskussion vom Vormittag zu Verbindungen und Unterschieden zwischen Gender Studies und Jineolojî wieder aufgegriffen und zusammen mit den Impulsen aus den weiteren Vorträgen vertieft. Der Fokus ging nun verstärkt dahin, wie Theorieentwicklung und revolutionäre Praxis sich (wieder) als Bestandteile des gleichen Projektes etablieren können. Dabei kamen die Referent*Innen zum Schluss, dass die Jineolojî von vornherein viel von vergangenen feministischen Kritiken gelernt und diese mit einbezogen hat. Die Jineolojî bezieht sich selbstverständlich und von Beginn an auf „emotionale Welten“, für dessen Anerkennung als wissenschaftliche Quelle die Akademiker*Innen jahrelang zu kämpfen hatten. Dabei soll Wissenschaft sozialer und gesamtgesellschaftlicher betrieben werden. Die Art und Weise des Vorgehens der Jineolojî kann ein Vorbild sein, das übertragbar ist.

Nach der Diskussions- und Fragerunde fasste Dr. Marlene Schäfers, Sozialanthropologin an der Universität Cambridge, die Tagung mit einem Abschlusskommentar zusammen. Dersim Dagdeviren vom Vorstand von Kurd-Akad e.V. beendete die Tagung, nicht zuletzt auch mit einem großen Dank an die Übersetzer*Innen, die die Tagung durchgehend simultan auf Englisch übersetzt hatten.

Es wurde angekündigt, dass die geschnittene Videoaufzeichnung der Tagung bald veröffentlicht und mit Literaturhinweisen ergänzt wird.

[1] Die Jineolojî benutzt den Begriff „Frau“ ohne Asterisk.

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