Raqqa im Aufbau

22.12.2018

Im Oktober diesen Jahres lernten wir bei der internationalen Frauenkonferenz Xewla al Isa, Vorsitzende des Frauenrates von Raqqa, kennen. Bei einer Rundreise, die sie anschließend mit weiteren Vertreterinnen der Frauenbewegung von Nordsyrien/Rojava durch Deutschland gemacht hatte, lud sie uns ein nach Raqqa zu kommen. Dieser Einladung wollten wir auf unserer Delegationsreise unbedingt nachkommen.

Auf dem Weg nach Raqqa wird uns gesagt, es wäre gut aus Sicherheitsgründen unsere überwiegend hellen Haare zu verdecken, damit wir nicht so auffallen. Es komme immer noch zu Anschlägen von Daesh Schläferzellen. Die Stadt so zu sehen ist schockierend. Obwohl wir schon viele Bilder und Filme von der zerbombten ehemaligen Hauptstadt von Daesh mitbekommen hatten, ist es doch etwas ganz anderes die Zerstörung mit den eigenen Augen zu sehen. Es ist zu erkennen, dass Raqqa eine wohlhabende Stadt mit guter Infrastruktur war, nun leben Menschen in Häusern, deren oberen Stockwerke weggebombt wurden, zwischen Wohnblocks klaffen riesige Lücken. Brücken über eine ehemalige Eisenbahnlinie stehen wie Fremdkörper in Trümmerfeldern. Abgestorbene Palmen hängen traurig herunter, während andere den Bombenhagel offensichtlich überlebt haben und scheinbar unverdrossen frische Triebe hervorbringen.

Parks und Kinderspielplätze wurden schon vom Schutt geräumt. An manchen Plätzen hängen schon bunte Kleidung und Schilder, die Stadt ist voller Menschen, überall wird gebaggert und gebaut. Allgemeinen scheint man sich auf bunte Kleidung und frohe Farben geeinigt zu haben. Das Leben ist nach Raqqa zurückgekehrt. Zumindest sind die Straßen weitgehend von Schutt geräumt, Kanalisation, Strom und Wasserversorgung hat die Demokratische Selbstverwaltung wieder hergestellt. Wir erreichen das Zentrum der Frauenbewegung von Raqqa. Am Eingang treffen wir auf einige uniformierte Frauen, die Mitglieder der Frauenverteidigungseinheiten des Militärrates von Raqqa sind. Sobald wir eintreten, empfangen uns Xewla al Isa, und ein Dutzend weitere Frauen mit strahlenden Augen. In ihrem Büro werden wir von zahlreichen Kameras regelrecht belagert, Ronahî TV, Jin TV und verschiedene Printmedien wollen über unseren Besuch in Raqqa berichten. Sehr viele überwiegend junge Frauen sind zusammengekommen, um Zeit mit uns zu verbringen.

Aufbau der Frauenbewegung in Raqqa

Hevala Xewla berichtet uns von dem Aufbau der Frauenbewegung in Raqqa, 15 Frauenräte wurden in der Region schon aufgebaut. 3000 Frauen sind in den Frauenstrukturen organisiert. Auch erste Frauenkooperativen wurden schon gebildet, u.a. eine Schneidereikooperative. „Das Mala Jin macht hier die wichtigste Arbeit“, konnte schon mehr als 500 Frauen bei der Lösung von Problemen helfen, so heval Xewla, „viele Frauen wurden während der Daesh Herrschaft schnell verheiratet, damit die Mitglieder der Banden sie nicht für sich beanspruchen können. Nun gibt es wegen dieser Schnellhochzeiten viele Probleme, viele wollen sich jetzt wieder trennen. Wenn es Kinder gibt, versuchen wir eher eine Verständigung“, berichtet sie weiter.

Auf unsere Frage, ob sie während der Besatzung noch Hoffnung hatte, erklärt Hevala Xewla, „Es gab kein Fernsehen, kein Radio, keine Zeitungen, zu Hause war es wie im Gefängnis. Wir wussten nicht, dass die QSD immer näher kamen. Mein Vater und mein Bruder waren verhaftet. Eine meiner Schwestern hat unter dem ganzen Druck psychische Probleme bekommen, eine andere hat im Krieg ihr Leben verloren, als sie von Daesh als menschliches Schutzschild benutzt wurde. Ich hatte keinen Glauben, keine Hoffnung, dass wir jemals wieder frei sein werden. Als Gerüchte aufkamen, dass die QSD näher kommen, warnte uns Daesh, die Kurden würden alle Frauen vergewaltigen und die arabische Bevölkerung vertreiben, aber zu dem Zeitpunkt, nach all den Gräueln, die wir erlebt haben, dachten wir nur, dass es nicht mehr schlimmer kommen kann. Fünf Jahre lang hat uns Daesh sogar vorgeschrieben, welche Kleidung wir tragen sollen. Daher wollte ich unbedingt beim Aufbau mitbestimmen. Vor der Befreiung kannten wir kaum Orte außerhalb von Raqqa, nun hat mich die Bewegung schon bis nach Deutschland gebracht und das Interesse der Frauen dort an uns gibt uns auch viel Kraft“, strahlt Hevala Xewla. Nach der Befreiung haben die Männer gesagt: „Nur die Frauen wurden befreit.“ Mit der Zeit hätte die Bewegung jedoch auch die Männer gewinnen können, weil sie die Probleme der ganzen Bevölkerung lösen.

Baba Ali

Nach dem Treffen haben wir die Möglichkeit in der Stadtverwaltung weitere Aktivistinnen zu treffen. Die Frauen berichten uns von dem Leben unter Daesh und dass die Befreiung ihnen einen neues Leben geschenkt habe. Heval Xewla möchte uns unbedingt noch den Käseladen in ihrem Viertel zeigen, den ihre neun Schwestern während der gesamten Besatzungszeit geführt haben. „Daesh wollte den Laden immer wieder schließen, aber er war unsere Existenzgrundlage, mein Bruder und mein Vater waren ja in Haft. Sie haben uns gezwungen einen Vorhang durch den Laden zu ziehen, damit man uns von außen nicht sieht, aber wir haben weitergemacht, wir mussten ja davon leben“, berichtet eine von Xewlas Schwestern. Die älteste Schwester sei während der Daesh Zeit als Mann verkleidet mit dem Auto durch die Stadt gefahren. Sie nannte sich Baba Ali.
Die Verantwortliche drängt uns, den Käseladen schnell wieder zu verlassen. Wir sind ein Sicherheitsrisiko mitten in der engen Altstadt, in der schon wieder viele Geschäfte geöffnet haben. Vor uns fährt eine bewaffnete Patrouille, hinter uns noch eine, sogar eine Warnsirene wird angeschaltet, bewaffnete Kräfte stehen auf der Straße, Frauen und Männer. Es scheint uns, dass wir nicht uns nicht besonders unauffällig unter unseren Kopftüchern bewegen.

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