Tabqa und der riesige Staudamm

23.12.2018

Unsere Reise durch die befreiten Gebiete bringt uns auch nach Tabqa. Von Anfang 2014 bis zum 10. Mai 2017 war Tabqa unter der Kontrolle von Daesh. Ende März 2017 begann die Operation der SDF (Syrian Democratic Forces) zur Befreiung der Stadt, die etwa eine Stunde entfernt liegt von Raqqa. Bekannt ist sie hauptsächlich durch die Tabqa-Talsperre, die eine der größten des Landes ist und für die Stromversorgung und der Bewässerung von Feldern entlang des Euphrats dient.

Da es schon Abend ist, als wir in die Stadt hineinfahren, können wir uns noch keinen Eindruck der Stadt und unserer Umgebung machen. Die Dunkelheit lässt uns nur erahnen, was uns gerade umgibt. Wir fahren über die Staumauer des riesigen Sees, der ehemals Assadsee genannt wurde und eines der letzten besetzten Gebiete von Daesh war.

Nur noch drei der sechs Turbinen sind aktiv, erzählt uns eine der Freundinnen. Damals hatte man große Angst, dass Daesh noch mehr zerstören würde, da sie sich lange auf der Staumauer verschanzten.

Als wir ankommen, ist noch nichts davon zu merken, dass wir uns in einem relativ frisch befreiten Gebiet befinden. Doch die etwas angespannte Sicherheitslage ist spürbar. Dennoch, an unserem Schlafort ist alles wie immer. Wir werden freudig von den dort lebenden Frauen begrüßt und auch wenn wir kaum arabisch sprechen, versuchen wir uns daran uns mit den Freundinnen zu verständigen. Das funktioniert mal mehr und mal weniger.

So eindruckslos die Nacht war, umso mehr sind wir überrascht, als wir in der Frühe das Haus verlassen und sich uns der Blick über den in Nebel gehüllten Euphrat eröffnet.

Da wir nur eine kurze Zeit hier sind, versuchen wir so viele Eindrücke wie möglich zu sammeln. Dazu gehört ein Besuch bei dem Frauenrat von Tabqa und seinen verschiedenen Kommissionen

Die Erzählungen der Frauen sind geprägt vom Leben unter Daesh. „Wir waren wie Tote“ beschreibt es eine der Freundinnen. „Wenn man mal mit Freundinnen am Ufer saß, kam direkt die Sittenpolizei, obwohl wir fast vollständig verschleiert waren“. Im Frauenrat zeigen uns die Freundinnen Videos von einem Geschäft voller Frauen, die nach der der Befreiung von Daesh bunte Kleidung kaufen. Begeistert zeigen sie uns ihre Arbeiten und das Gebäude. Kaum vorstellbar, was diese Frauen erleiden mussten. Und nun sitzen sie voller Lebensfreude vor uns, erzählen uns welche Schritte im Aufbau des Rates gemacht wurden. Viele sind neu, sind noch nicht lange im Rat. „Ich habe die Grenzen um mich zerschlagen“ beschreibt es eine der Frauen. Eine der Freundinnen erzählt uns, wie durch die Bildungen, an denen sie teilnahm, die Furcht in ihr gebrochen wurde: „Jetzt ich kann frei reden.“

Im Frauenrat können wir die schnellen Entwicklungen beim Aufbau der Selbstverwaltung miterleben. In einem Jahr und 3 Monaten wurden 80 % der Wasser- und Stromversorgung wieder hergestellt, ein Krankenhaus und Geburtshaus wurden eröffnet und Bildungsakademien in vielen Bereichen errichtet. Die Frauen, die in dem Rat arbeiten, zeigen uns Bilder und Videos von der Demonstration am 25. November diesen Jahres und erzählen uns, dass allein im November 25 Bildungen zum Thema „Gewalt an Frauen“ stattgefunden haben, gemischtgeschlechtliche und nur für Frauen. Auch ein Fest zur Befreiung von Daesh gab es, wo alle Frauen bunte Kleider trugen. Neben den Verwaltungsstrukturen gibt es eine Kinderkrippe, damit Frauen mit Kindern arbeiten können. Wie auch in Deutschland wird hier das Thema Doppelbelastung der Frau durch Lohn- und Carearbeit diskutiert. Doch im Vordergrund steht zunächst den Frauen überhaupt die Möglichkeit aufzuzeigen, sich am politischen Leben zu beteiligen.

Am Nachmittag haben wir das Kulturzentrum besucht. Als wir am Vormittag an dem Gebäude, in dem sich das Zentrum befindet vorbeigefahren sind, dachten wir es sei eine Ruine. Die Hinterseite wurde bombardiert und man kann in alle Stockwerke hineinblicken. Auf Grund des Baustils ließ sich erahnen, dass es sich um ein wichtiges Gebäude handeln muss. Wären wir nicht wieder an der zerstörten Seite vorbeigefahren, hätten wir nie gedacht, dass wir uns am Nachmittag in diesem zerstörten Bauwerk befinden.

Wie wir später erfahren, war das Gebäude zu Regimezeiten ein Kulturzentrum. Unter der Besatzung von Daesh wurde es zu einem Gefängnis umfunktioniert. „Im Keller wurden die Yezidinnen getötet.“, erzählt uns ein Freund. Bei der Befreiung Tabqas wurde das Gefängnis dann bombardiert.

Wenn man sich in dem unversehrten Bereich des Gebäudes aufhält, kann man die Geschichte des Ortes schnell vergessen. Viele junge Frauen und Männer laufen durch den Flur und setzen sich zu uns ins Zimmer, um den Besuch kennen zu lernen.

Die künstlerischen Arbeiten der jungen Leute hier ist vielschichtig und eng mit der Besatzung von Daesh verbunden. In einem Raum werden uns Bücher gezeigt, die vor den Bücherverbrennungen, die Daesh durchführte, gerettet werden konnten. Damit soll nun eine Bibliothek aufgebaut werden. In einem anderen Raum sind Gemälde, die unter der Erde vor Daesh versteckt werden konnten, um sie nun wieder ausstellen zu können. Die Kunstwerke, die hier entstehen, werden ausschließlich aus recycelten Materialien, die in der Stadt nach dem Krieg gesammelt wurden, produziert.

Berührend sind auch die Zeichnungen von Kindern, die an der Wand hängen. Die, die kurz nach der Befreiung entstanden sind, zeigen Bombardierungen und tote Menschen. Das Kulturzentrum arbeitet daran, den Kindern neue Eindrücke zu verschaffen, was Erfolg zu haben scheint, denn neben den Kriegsbildern hängen noch viele andere Kinderzeichnungen, die nicht an den Krieg erinnern.

Den Abend verbringen wir bei der Jineolojî-Akademie. Frauen, die in den Augen von Daesh allerhöchstens Gebärmaschinen waren, haben nun die Möglichkeit an diesem Ort sich selbst kennenzulernen und ihre eigene Geschichte zu erforschen. Dass dies in einem Gebäude stattfindet, welches in Regimezeiten für Hochzeiten genutzt wurde und dann ein Quartier von Daesh war, ist irgendwie auch eine schöne Form der Genugtuung.

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