18.02.2019
„Wenn Nationalstaaten eine Bande von Banditen sind, dann dienen Gesetze dazu, ihren Raub zu verschleiern“
Das Thema der Gerechtigkeit ist eins, das uns in der feministischen Praxis ständig begleitet. Ob bei Konzepten wie Transformative Justice, den Kämpfen für autonome Frauenhäuser oder das öffentliche Outing von Tätern – es gibt verschiedene Versuche und verschiedene Ansätze, um einen nachhaltigen und verändernden Umgang mit patriarchalen Angriffen zu finden.
Uns beschäftigt die Suche nach einer gesellschaftlichen Lösung für die Schaffung von Gerechtigkeit. Wir fragen uns welche Strukturen wir schaffen können, um nicht mehr auf die Strapazen, Schikanen und die Unterdrückung des staatlichen Rechtssystems zurückgreifen zu müssen.
Bei unserem Aufenthalt in der selbstverwalteten Region in Nordsyrien haben uns somit die autonomen Gerechtigkeitsstrukturen der Frauen sehr interessiert. Besonders zentral ist darin das Mala Jin (Haus der Frauen).
Das Mala Jin ist die wichtigste Instanz der Gerechtigkeit in Rojava und an die Kommunen angebunden. Alle Konflikte, die patriarchale (Familien-)Verhältnisse betreffen, werden dort behandelt. Es gibt zwar auch Gerichte wie bei uns, aber „80% der Fälle klären wir im Mala Jin.“, erzaehlt uns eine Mitarbeiterin in Minbic.
Es geht bei der Arbeit der Mala Jin vor Allem darum, gesellschaftliche Lösungen bei patriarchaler Gewalt zu finden. Diese entstehen in Gesprächen mit den Frauen und dem Umfeld. Mala Jins sind Orte, die in erster Linie den Frauen gehören, um sich zu stärken und gegenseitig zu ermächtigen.
Wir haben Mala Jins in Minbic und in Qamishlo besucht. Hier reden die Mitarbeiterinnen des Mala Jin erst mit den Frauen und dann mit der Familie und anderen Involvierten. Es kann bis zu 3 Sitzungen in diesem Rahmen geben, an denen auch Vertreterinnen der Gerechtigkeitskommission und der Gerichte beteiligt sein können, bevor die Fälle dann vor Gericht gehen, falls sie nicht gelöst werden können.
In Minbic wurde das erste Mala Jin am 25.11.2016 wenige Monate nach der Befreiung von Daesh (sogenannter Islamischer Staat) eröffnet. Minbic ist eine Stadt mit einem hohen arabischen Bevölkerungsanteil. Die Stadt stand unter der Regierung des syrischen Regimes, bis sie im Januar 2014 von Daesh eingenommen wurde. Unter dieser Herrschaft litten vor allem Frauen.
Unter Daesh durften Frauen nicht alleine rausgehen, durften ihr Gesicht und ihre Hände nicht zeigen. Menschen, die nicht Muslim*innen waren, wurden verfolgt, Frauen auf dem Markt verkauft. Wer dem syrischen Regime nahe stand oder Mitglied der kurdischen Bewegung war, wurde gefoltert, getötet oder entführt. Viele Männer sind den dschihadistischen Milizen und Daesh beigetreten, wofür den Familien der Jugendlichen Geld versprochen wurde. Oft wollten Familien verhindern, dass ihre Töchter von von Daesh-Mitgliedern zur Heirat gezwungen werden und so verheirateten sie die Mädchen schon im Alter von 12 oder 13 Jahren an andere Männer. Diese Zeit hat tiefe Spuren in der Gesellschaft Minbics hinterlassen.
Seit der Befreiung der Stadt haben viele Frauen das Mala Jin mit ihren Problemen und Konflikten aufgesucht. Die Nachfrage war so groß, dass innerhalb von 1,5 Jahren noch 3 weitere eröffnet wurden. Viele Fälle, um die es im Mala Jn in Minbic nun geht, beschäftigen sich mit den Auswirkungen der Zeit unter Daesh, zum Beispiel einen Umgang mit den vielen Verheiratungen zu finden.
Die Freundinnen schildern uns konkrete Fälle, denen sich das Mala Jin angenommen hat. Was sie erzählen, zeigt die Grausamkeit, welche patriarchale Gewalt auch hier hat und macht die Notwedigkeit von Mala Jins um so deutlicher.
Zum Beispiel gab es einen Feminizid, der in einer Familie vom Vater und Sohn gemeinsam gegen die Tochter, bzw. Schwester begangen wurde. Beide Täter sitzen nun im Gefängnis.
Die Freundinnen erzählen von einem anderen Fall, bei dem der Vater seinen Kindern den Kontakt zur Mutter verbot. Die Gewalt richtete sich gegen die Mutter und die Tochter, welche sich dem Kontaktverbot widersetzte und daraufhin heftige Gewalt durch Vater und Bruder erfuhr.
Es gibt auch Probleme bei einem patriarchalen Umgang mit Frauen, die sich in Männer verlieben, welche die Familie nicht für sie ausgesucht hat. Falls diese schwanger werden oder die Ablehnung auch auf der Seite der Familie des Mannes entsteht, werden sie häufig auf die Straße gesetzt. Zu ihrer eigenen Familie kann sie dann nicht mehr zurück, also geht sie ins Mala Jin. Für wenige Tage kann sie dort bleiben und auch da übernachten bis die Familie nach Gesprächen wieder bereit ist, sie aufzunehmen. „Uns geht es darum die Familien zusammen zu führen und nicht zu spalten“, erzählt eine Frau im Mala Jin.
Als wir nachfragen, welche Fälle vorrangig behandelt werden, stellt uns die Freundin die registrierten Fälle eines der 4 Mala Jins im Jahr 2018 vor. Diese Betrafen Feminizide, Selbstmorde von Frauen, sexualisierte Gewalt, Entführungen, Verhaftungen wegen Prostitution, Polygamie und Verhaftungen von Frauen, die sich Daesh oder anderen Milizen angeschlossen haben.
In den Mala Jins wird versucht das Thema der Frauenbefreiung für alle Beteiligten verständlich zu machen und auf dieser Basis nach Lösungen zu suchen. Manchmal reicht das allein aber nicht, um patriarchaler Gewalt ein Ende zu setzen. Den Beteiligten, und damit oft den Vätern oder Brüdern, werden auch die Konsequenzen einer Gefängnisstrafe klar gemacht.
Während die Arbeiten des Mala Jin für viele Frauen eine große Unterstützung darstellen, ist die Institution zugleich vielen Angriffen ausgesetzt. Immer wieder werden Mitarbeiterinnen am Telefon bedroht oder es wird versucht, ihre Namen heraus zu finden, um Druck auf sie ausüben und ihre Arbeit behindern zu können. Jedoch lassen sie sich hiervon nicht von ihrer Arbeit abbringen.
Eine Freundin, mit der wir sprachen, teilte ihre Analyse vom nationalstaatlichen Justizsystem mit uns: „Wenn Nationalstaaten eine Bande von Banditen sind, dann dienen Gesetze dazu, ihren Raub zu verschleiern“. Innerhalb der staatlichen Logik koennen Gesetze dazu da sein, die Gesellschaft zu entmündigen und sie der Fähigkeit zu berauben, nach eigenen Prinzipien zu leben und Aushandlungen zu führen. Auch in der demokratisch selbstverwalteten Region gibt es Gesetze, wie etwa die Gesetze zum Schutz von Frauen, die patriarchale Gewalt verhindern sollen und Kinderehen oder Poligamie verbieten, was zuvor sehr verbreitet war. Der Schwerpunkt des Gerechtigkeitssystems liegt jedoch darauf, bestimmte Wertvorstellungen innerhalb der Gesellschaft zu stärken und diese zu befähigen, sich auch im Bezug auf Gerechtigkeit selbst zu verwalten und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Dass Justiz auch als ein Mittel verstanden und umgesetzt werden kann, welches das gesellschaftliche Zusammenleben und keine staatlichen Strukturen schützt, ist eine neue Perspektive.