Şehid Helîn lives forever

„… wenn es eine Sache gibt, die ich von Anna gelernt habe, dann dass es hier nicht nur um mich geht.“

03.03.2019

Şehid Helîn Qerecox – Anna Campell – aus Bristol ist eine der Internationalist_innen, die letztes Jahr im Kampf gegen die türkische Besatzung von Afrîn gefallen ist. Viele, die wir hier getroffen haben, kannten sie und ihr Porträt ist uns in allen möglichen Räumen begegnet. Über den Eingängen der YPJ International Akademie und der internationalistischen Kommune hängen Banner von ihr. Ihr Tod hat viele Menschen hier und ihrer Heimatstadt getroffen und sie ist mit den anderen gefallenen Internationalist_innen zu einem Symbol der internationalen Beteiligung im Kampf für die Revolution in Rojava geworden.
Auf unserer Delegation haben wir Heval Bêrîvan und Heval Gelhat getroffen, zwei Freund_innen von Şehid Helîn, die sie kannten, bevor sie in die demokratische Föderation Nordostsyrien gegangen ist. Die beiden erzählen uns von ihrem Leben und dem Einfluss, den Şehid Helîn auf die beiden gehabt habt.

Heval Bêrîvan, erzähl uns doch erstmal deine persönliche Geschichte.

Heval Bêrîvan:
Mein Name ist Bêrîvan und ich komme aus Großbritannien. Ich bin seit ungefähr 10 Jahren, also seit ich 20 bin, auf unterschiedliche Art und Weise politisch aktiv. Angefangen habe ich in der No Borders-Bewegung, in der ich auch immer noch in einer anderen Form aktiv bin. Ich habe verschiedene politische Aktionen gemacht, mich an Camps und widerständigen Aktionen beteiligt und eine Menge davon gelernt. Doch vor einigen Jahren hat sich meine Perspektive darauf verändert und ich bin wieder nach Schottland gegangen, wo ich ursprünglich herkomme, um eine langfristigere Organisierung mit Blick auf die größeren Zusammenhänge und langfristige, kollektive Arbeiten zu entwickeln.
Ich war mir der Existenz der kurdischen Bewegung seit Jahren bewusst, aber bis vor sehr kurzer Zeit war ich sehr ignorant. Ignorant demgegenüber wie die kurdische Bewegung mit anderen Kämpfen verbunden ist, ignorant gegenüber der Ideologie der Bewegung. Nachdem meine Freundin Anna nach Rojava gegangen ist, habe ich viel mehr darüber erfahren. Auch schon davor habe ich verstanden warum sie das tut, aber ihre Anwesenheit hier vor Ort hat mich inspiriert mehr darüber zu lernen. Ab dann war ich auch in den Solidaritätsarbeiten in Europa und auf Bildungen der kurdischen Bewegung und jetzt bin ich hier in Rojava.

Und wie ist das passiert?

Heval Bêrîvan:
Gute Frage. Es beschäftigt mich, dass einige Leute, die mich treffen, davon ausgehen, dass es Annas Tod war, der mich nach Rojava gebracht hat. Das stimmt nicht ganz. Allerdings hatte Annas Leben viel damit zu tun. Als sie noch hier war, waren wir in Kontakt und sie hat versucht mich zu überreden nach Rojava zu kommen. Wenn wir telefoniert haben, klang sie wie eine Pfandfinderin im Camp: „Du solltest hierher kommen, es ist großartig! Es gibt haufenweise liebe Hunde und alle sind ziemlich cool“. Aber nicht nur deswegen. Ich hab viel gelesen und gelernt und weil sich meine Gefühle zur politischen Situation in Großbritannien verändert haben, habe ich mich entschieden nach Rojava zu kommen. Ich hatte in Großbritannien und in meinem Kontext das Gefühl jahrelang unterschiedliche Richtungen ausprobiert zu haben und immer in Sackgassen zu laufen. Ich war mir nicht sicher, wo ich meine Energie rein stecken sollte. Denn ich hatte Energie und eine menge Wut, die ich in politische Organisierung investieren wollte. Es fiel mir aber schwer meine Rolle zu finden und ich fühlte mich wie gelähmt. Ich dachte und ich hoffe immer noch, dass an einen Ort mit einer solchen Bewegung zu kommen zumindest inspirierend, Kraft spendend und lehrreich sein kann. Dementsprechend will ich die kurdische Bewegung unterstützen so viel ich kann, aber ich will auch von meiner Zeit hier lernen. Ich will lernen, wie man auch in unserem Kontext Revolution machen kann, weil diese hier global sein muss, um zu gelingen.
Nach meinem ursprünglichen Plan wollte ich im November 2017 herkommen und der YPJ beitreten. Ich hab mir einen Flug gebucht. Vielleicht erinnert ihr euch daran, was im November 2017 in Başur/Südkurdistan los war. Die Flughäfen waren geschlossen. Ich konnte also nicht kommen. Politisch gesehen finde ich es jetzt gut, weil ich jetzt das Gefühl habe um einiges besser vorbereitet und gebildet zu sein. Außerdem fühle ich mich viel mehr als Teil des Kollektivs, hier und auch in Großbritannien. Und als Delegierte einer Gruppe, was um einiges besser ist und auch mehr im Geiste der Revolution. Ich bin auch froh, dass ich jetzt in einer sozialen statt in einer militärischen Position hier bin. Demnach denke ich, dass diese einjährige Verspätung politisch sehr gut war. Aber es bricht mir das Herz, dass ich Anna nie wieder gesehen habe, weil sie in der Zeit zwischen der Schließung und der erneuten Öffnung der Flughäfen gefallen ist. Ich hätte sie gern nocheinmal gesehen. Als sich die Flughäfen wieder öffneten, war es einen Monat her, dass Anna gefallen war. Es war einiges los in meinem Lebensumfeld. Es gab viele Leute, mit denen wir gemeinsame Beziehungen hatten, es gab Veränderungen und ich hatte eine besondere Rolle inne. Ich hab also etwas Zeit gebraucht um zu planen und meine Entscheidung nochmal zu bedenken, neu zu fällen und nichts zu überstürzen. Auch um mit meiner Familie, meiner selbst gewählten Familie, meinen Freunden und engen Freundeskreis über die Entscheidung zu diskutieren. Denn oft wenn Menschen Entscheidungen wie diese fällen sagen sie „Es ist mein Leben und meine Entscheidung“. Ich denke da ist etwas dran, andere Menschen sollten uns nicht diese Entscheidung verbieten, aber wenn es eine Sache gibt, die ich von Anna gelernt habe, dann dass es hier nicht nur um mich geht. Ich möchte mich um meine Community kümmern genauso wie die Kurd_innen das tun. Ich hatte also einige Gespräche zu führen bevor ich gefahren bin. Aber jetzt fühle ich mich in meinem Aufenthalt hier sehr unterstützt.

Kannst du uns ein paar Sätze zu deinem Familienhintergrund sagen?

Heval Bêrîvan:
Meine Eltern sind politisch, aber nicht aktiv. Sie haben ihre Kinder nicht zur Schule geschickt, ich bin also nie zur Schule gegangen und wurde zu Hause unterrichtet. Meine Eltern haben ihre Berufe als Lehrer_innen gekündigt, deswegen waren wir auch nicht sonderlich wohlhabend. Mein Vater ist nicht froh, dass ich hier bin. Er hat sehr viel Angst. Aber ehrlich gesagt ist er derjenige, der mir vom Marxismus erzählt hat als ich 12 Jahre alt war. Also ist er wohl selbst schuld. Ich habe eine sehr enge Beziehung mit meiner Mutter und meiner Schwester und auch mit meinem Bruder wenn auch auf eine etwas andere Weise. Sie alle haben mich auf ihre eigene Art unterstützt hierher zu kommen. Ich spüre eine Verbindung zu meiner Familie, was, wie ich weiß, ein Glücksfall ist, denn einige Leute haben große Probleme mit ihrer Familie in diesem Kontext.

Willst du weitermachen Heval Gelhat?

Heval Gelhat:
Mein Name ist Gelhat und ich komme aus England. Auch ich habe, wie Bêrîvan, vor ungefähr 10 Jahren begonnen politisch aktiv zu werden. Das war im Jahr 2009. Die erste politische Arbeit, die ich gemacht habe, waren Solidaritätsarbeiten für Menschenrechte in Palästina. Von da aus entwickelte es sich dann in Richtung Anarchismus und Gewerkschaftsbewegung. Also wurde ich Mitglied der IWW, die Wobblies genannt werden. Durch die anarchistischen Bewegung hatte ich auch mit der antifaschistischen Bewegung und – noch wichtiger – der Anti-Knast Bewegung zu tun und war im „Anarchist Black Cross“. Über die Jahre habe ich meinen gewerkschaftlichen Aktivismus mit meinen Anti-Knast Arbeiten verbunden und habe mit anderen Menschen das „Incarcerated Workers Organising Comittee“ (Organisationskomitee inhaftierter Arbeiter) in England gegründet. Das ist eine Gewerkschaftsbewegung innerhalb des Knastsystems.
Ich habe von der kurdischen Bewegung erfahren als Vertreter_innen der PKK bei einer anarchistischen Konferenz in der Schweiz 2012 teilgenommen haben. Sie haben dort über die Einflüsse Murray Bookchins und anderer anarchistischer Theoretiker_innen auf die Bewegung gesprochen und wie das in ihren eigenen Strukturen umgesetzt wird.
Zur Zeit des Widerstands gegen den sogenannten Islamischen Staat habe ich mich dann entschieden mich in der in der kurdischen Bewegung zu engagieren. Das war 2014 und 2015 zur Zeit der Belagerung von Kobanê und der Sinjar Berge. Da fing ich an zu Demonstrationen und Vorträgen der kurdischen Bewegung zu gehen und mehr darüber zu lernen wofür die Bewegung kämpft. Anna und ich haben über die Jahre – wir lebten damals im selben Haus – viel darüber geredet nach Rojava zu gehen und zur Bewegung beizutragen. In dieser Zeit haben wir uns auch mit anderen Leuten aus Bristol getroffen und uns entschieden, dass mehr zur Unterstützung der Revolution in Rojava passieren sollte. Wir haben dann eine Solidaritätsgruppe gegründet und uns mit der breiteren kurdischen Bewegung in England vernetzt. Anna und ein anderer Freund haben sich zu dem Zeitpunkt entschieden sich der YPJ und YPG anzuschließen. Natürlich wollte ich auch gehen, aber weil Anna und ich in den selben Gruppen waren, hätten die sich aufgelöst, wenn wir beide gleichzeitig gegangen wären. Unsere Abmachung war also, dass Anna geht und ich gehe, wenn sie wieder zurück kommt. Ich hatte also immer vor nach Rojava zu gehen. Eigentlich wollte ich in die militärischen Einheiten gehen, aber nachdem Anna gefallen ist und nach Gesprächen mit kurdischen Genossen habe ich mich für einen anderen Einsatz in den zivilen Strukturen entschieden. Jetzt bin ich also auch hier in Rojava und hoffe so viel wie möglich über die Bewegung zu lernen und zu verstehen wie wir die Idee der Revolution in meinem eigenen Land und auch in Europa verbreiten können.

Wann bist du hier her gekommen? Und wie sieht es mit deinem Familienhintergrund aus?

Heval Gelhat:
Angekommen bin ich hier an Heiligabend. Es war wie ein Weihnachtsgeschenk für mich. Ich bin zehn Minuten nach meiner Ankunft in die Kirche zur Mitternachtsmesse gegangen und es hat sich sehr gut angefühlt hier zu sein. Es war ein echtes Weihnachtswunder endlich hier zu sein. Jetzt bin ich ungefähr drei Wochen hier und bisher war es sehr aufregend. Ich weiß, dass es wichtig ist Dinge langsam anzugehen, aber auf der anderen Seite bin ich, wie gesagt, sehr aufgeregt und möchte vieles sehen und Leute treffen und kennenlernen.
Und zu meiner Familie: Ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Meine Eltern waren kurze Zeit in der Ökologiebewegung aktiv. Außerdem war mein Großvater mütterlicherseits ein Linker und eine Zeit lang Mitglied der kommunistischen Partei. Meine Familie väterlicherseits kommt aus einer irischen, links-katholischen Tradition und wir haben auch Wurzeln, die nach Irland zurückführen. Meine Familie war auch in die irisch-republikanische Bewegung aktiv. Meine Großeltern mütterlicherseits kommen aus Schottland. Sie sind nicht besonders links, aber mein Großvater war in Dunkirk, als es von den Nazis umzingelt war. Es gab also immer den Wunsch für das richtige Ziel zu kämpfen und gegen den Faschismus Widerstand zu leisten. In Bezug auf meine Reise sind meine Eltern natürlich sehr besorgt. Sie haben auch Zweifel geäußert, aber nachdem ich mit ihnen darüber gesprochen habe und seit ich nun hier bin und Kontakt mit ihnen habe, sind sie erleichtert und finden es gut, dass ich hier bin. Sie haben sich dazu entschieden mich zu unterstützen, obwohl sie eigentlich nicht wollten, dass ich hier bin.

Könnt ihr uns etwas über eure ersten Eindrücke in Rojava sagen?

Heval Bêrîvan:
Also die ersten paar Tage hat es sich echt surreal angefühlt an einen Ort zu kommen, von dem man gehört und gelesen hat, von dem man Interviews, Vorträge und Filme gesehen hat. Dann ist man noch dabei die Sprache zu lernen, versteht nicht wirklich etwas und alles muss übersetzt werden. Es fehlt also eine gewisse Ebene und auch das fühlt sich unwirklich an. Der erste Eindruck ist also dominiert von einem Gefühl wie „Bin ich wirklich hier? Was ist das für ein Ort?“. Und jetzt wo ich länger als einen Monat hier bin, ist es so, wie ich es erwartet habe und wie ich davon gehört habe. Man denkt nicht so etwas wie „Oh, das ist aber nicht so, wie alle es mir gesagt haben“.
Einen Eindruck, den ich habe ist, dass sich die gesamte Bevölkerung hier an der Politik beteiligt und es ist sehr spannend mit den Menschen zu sprechen. Selbst wenn die Leute nicht unbedingt mit den Ideen der Bewegung übereinstimmen oder Teil von ihr sind, haben sie trotzdem gefestigte Meinungen, beteiligen sich und haben ein Verständnis von politischen Zusammenhängen, von denen Menschen in Großbritannien nichts wissen und sich nicht damit auseinandersetzen. Das ist natürlich etwas, woran wir arbeiten müssen.
Als ich begonnen habe die Komplexität der Verhältnisse hier zu verstehen, ist mir bewusst geworden, dass das Leben hier unter schwierigen Bedingungen abläuft. Es gibt so viele Widersprüche und Schwierigkeiten. Aber ich fange gerade erst an die Spitze des Eisbergs zu verstehen. Das ist sehr gut und nützlich. Je mehr ich lerne, desto mehr merke ich, was ich alles noch nicht weiß. Jede beantwortete Frage ruft fünf neue hervor, was sich natürlich über das Leben allgemein sagen lässt, aber auch speziell zu Rojava.

Heval Gelhat:
Also für mich ist das hier eine sehr neue Erfahrung, weil ich tatsächlich das erste Mal Europa verlassen habe. Außerdem wird es die längste Zeit sein, die ich nicht in England bin. Die längste Zeit, die ich jemals weg war, waren vielleicht drei Wochen im Baskenland.
Die größte Aufgabe für mich ist momentan zu versuchen die Sprachbarriere zu überwinden und Kurmanci so gut wie möglich zu lernen, was sehr wichtig ist. Außerdem geht es auch um die Bildung. Für den Moment liegt mein Fokus darauf so viel wie möglich zu lernen und mich so gut es geht auf diese Erfahrung einzulassen.

Würdet Ihr vielleicht etwas über Anna sagen wollen? Woher kanntet ihr sie, wie war eure gemeinsame Geschichte und was habt ihr über Anna hier in Rojava gehört?

Heval Bêrîvan:
Also ich habe Anna im Jahr 2011 in Calais in Frankreich kennengelernt. Wir waren beide da mit „Calais Migrant Solidarity“, einer anarchistischen Gruppe, die versuchte solidarisch mit den Menschen ohne Papiere zu sein. Zu dieser Zeit war das für uns beide Fokus unserer politischen Arbeit und in dieser Art von Kontext baut man sehr schnell Beziehungen zueinander auf, da – ich denke ihr habt das alle erlebt – es eine besonders intensive Art zu leben ist. Politisch und sozial sind wir also recht schnell ziemlich eng miteinander geworden.
Später in diesem Jahr waren wir beide Teil einer Gruppe, die eine Widerstandsaktion an einem Wohnwagenplatz in Großbritannien, der Dale Farm, durchgeführt haben. Es gab dort eine große Räumung und einen Aufruf von Solidaritätsgruppen zum Widerstand. Wir waren bis dahin nicht auf dem Wagenplatz aktiv gewesen, folgten aber dem Aufruf und waren dann insgesamt zwei Monate da und bauten Verteidigungsstrukturen. Der Tag der Räumung war eine ziemliche Konfrontation. Ich denke, aufgrund unseres Alter, der Art der politischen Arbeit die wir machten und der Form der Aktionen war es eine ziemlich prägende Zeit. Anna und ich lebten nicht in der selben Stadt wie Gelhat und sie unsere Beziehungen aus dieser Zeit blieben immer sehr stark. Wir blieben auch in Kontakt miteinander, darin war sie immer sehr gut. Wir schrieben uns Briefe und besuchten uns in Schottland und Bristol. Im Jahr nach der Räumung von „Dale Farm“ waren wir alle sehr viel miteinander unterwegs, besetzten Häuser in London oder Bristol. Diese Gruppe blieb gut vernetzt und ich kann gar nicht zählen auf wie vielen Demos und Aktionen wir zusammen waren und in wie viele Gebäude wir zusammen einbrachen.
Der kurdischen Bewegung war ich mir seit Jahren bewusst, doch immer eher ignorant gegenüber. Nachdem Anna nach Rojava ging, habe ich viel darüber gelernt. Ich habe dann verstanden, warum sie das tut, aber ihre Präsenz hier vor Ort inspirierte mich dazu noch viel mehr über die Bewegung zu lernen. Ab dann war ich auch in Solidaritätsarbeiten in Europa involviert und besuchte Bildungen der kurdischen Bewegung.

Als ich davon hörte, dass Anna nach Rojava gegangen war, waren wir zuletzt nicht so viel miteinander in Kontakt gewesen und sie hatte es mir nicht gesagt. Sie hatte es einer großen Menge an Leuten vorher nicht gesagt, die es wohl gerne gewusst hätten. Das veranlasste mich auch viel darüber nachzudenken, als ich entschied zu gehen. Ich habe gesehen, wieviele Leute es getroffen hat, dass sie es nicht wussten und umso mehr nachdem sie gefallen war. Das hat die Art und Weise wie ich mit meiner Reise im Vorhinein umgegangen bin und mit wem ich vorher Gespräche führte wirklich stark beeinflusst. Im Ausgleich zwischen Sicherheitskultur und den emotionalen Bedürfnissen meiner Umgebung habe ich die Sicherheitskultur quasi zum Fenster raus geschmissen und mich entschieden, dass die emotionalen Bedürfnisse wichtiger sind. Anna hatte mir vorher eine Nachricht geschrieben mit „Ich fahre weg, ich möchte nicht über SMS darüber sprechen“. Ich dachte mir „Ok, da kann ich mir ein paar verschiedene Optionen vorstellen“, aber an das hier habe ich nicht gedacht. Als ich dann hörte wohin sie gegangen war, fingen wir an E-Mails zu schreiben und zu telefonieren und tatsächlich waren wir mehr im Kontakt als sie hier war als im Jahr davor. Wenn etwas so Großes passiert führt das auch zu mehr Austausch. Sie versuchte immer mich zu überzeugen hier her zu kommen. Sie erzählte mir wie gut die politischen Arbeiten waren, wie viel sie lernte und was sie mir alles erzählen müsse, wenn ich käme. Es gab viele Momente in denen sie sagte „Ich erzähle es dir wenn du her kommst, das wird großartig.“. Ich bin sehr glücklich darüber, dass es diesen Kontakt gab während sie hier war, denn für einige Leute war es schwerer diesen Kontakt mit ihr zu halten.
Natürlich bricht es mir das Herz, dass ich Anna nie wieder gesehen habe. Ich hätte sie gern nochmal gesehen.

Heval Gelhat:
Also das erste Mal, dass ich Anna traf war im Jahr 2013. Wir hatten uns durch eine gemeinsame Freundin kennengelernt. Richtig gut aber erst als sie nach Bristol gezogen ist. Ich denke, die Nacht in der wir eine richtige Bindung miteinander eingingen, war als ich ein Geschenk für eine Freundin machen wollte und sie mir half Stencils von revolutionären Frauenpersönlichkeiten zu machen. Dazu gehörten Emma Goldman, Lucy Parsons und auch Kanno Sugako, eine japanische Anarcha-Feministin. Es war schön mehr über die revolutionären Persönlichkeiten zu lernen, die ich bereits kannte, aber auch neue kennenzulernen, von denen ich noch nie gehört hatte. Wir hatten sehr gute Gespräche darüber und von da an wurden wir sehr enge Freunde. Wir für eine Zeit zusammen im selben Haus, was sehr schön war. Sie war fast wie eine große Schwester für mich.
Wir entschieden uns auch gemeinsam an denselben politischen Arbeiten zu beteiligen.
Dass ich mich in der kurdischen Bewegung engagieren wollte war zur Zeit des Widerstands gegen den sog. Islamischen Staat. Also im Jahr 2014 und 2015 als die Belagerung von Kobane und der Sinjar Berge stattfand. Da fing ich an zu Demonstrationen und Vorträgen der kurdischen Bewegung zu gehen und mehr darüber zu lernen wofür die Bewegung kämpft. Über die Jahre sprachen Anna und ich eine Menge darüber nach Rojava gehen zu wollen und unseren Teil zur Bewegung beizutragen. Etwa zu dieser Zeit trafen wir uns auch mit anderen Menschen aus Bristol und entschieden, dass in Bristol mehr zur Unterstützung der Revolution in Rojava passieren sollte. Wir grümdeten dort eine Solidaritätsgruppe und fingen an, uns mit der breiteren kurdischen Bewegung in England zu vernetzen.
Zu dieser Zeit hatte Anna mit einem weiteren Freund Charlie die Entscheidung gefällt nach Rojava zu gehen und sich der YPJ anzuschließen. Charlie ging zur YPG ging. Natürlich wollte ich auch gehen, aber da Anna und ich in denselben Gruppen waren, wären diese zerfallen, wenn wir sie beide zur selben Zeit verlassen hätten. Also war unsere Abmachung, dass Anna gehen und ich mit meiner Abreise auf ihre Rückkehr warten würde. Es war also immer meine Intention nach Rojava zu gehen.
Es war wirklich wunderbar über die Jahre so viel Zeit mit Anna verbracht zu haben. Es fühlt sich ein wenig seltsam an, denn ich habe mit einigen Leute gesprochen, die in den Gesprächen mit ihr sehr besorgt um sie waren und sich fragten, ob es die richtige Entscheidung sei und natürlich war ich auch besorgt um ihre Sicherheit aber hauptsächlich war ich sehr glücklich für sie, ich war sehr aufgeregt. Ich sagte: „Ich bin wirklich stolz auf dich, das Einzige was ich bedauere ist, dass ich nicht mit dir kommen kann.“. Und ich wünschte ihr alles Gute, weil ich wusste, dass es das war, was sie tun würde. Sie davon abzuhalten wäre eine Lüge gewesen. Denn es war etwas was auch ich wollte und ich wollte sie darin unterstützen.
Als sie dann hier in Rojava war unterhielten wir uns von Zeit zu Zeit am Telefon und sie schickte auch Fotos, zum Beispiel Fotos von Welpen, die sie auf ihren Reisen gefunden hatte. Und sie erzählte uns auch von Dingen, die sie lernte oder sie erzählte uns von den neuen Fahrzeugen, die sie bekamen. Diese Gespräche bedeuteten mir viel und ich bin sicher sie bedeuteten ihr auch einiges. Ebenso wie bei der Freundin Bêrîvan versuchte sie mich zu überzeugen „Du solltest herkommen, du solltest herkommen“, und auch ich meinte „Es gibt hier Dinge zu tun, wenn du zurück kommst kann ich gehen“.

Könnt ihr uns etwas darüber erzählen, was Anna hier gemacht hat? Wie hat sie sich gefühlt als sie hier ankam, wie hat sie hier gelebt, wie war ihre Arbeit hier?

Heval Bêrîvan:
Sie kam hier mit dem Plan den YPJ beizutreten also in den militärischen Bereich zu gehen. Manchmal erwies sich das als schwierig und sie musste darauf drängen, aber sie hatte immer diesen Fokus. Sie half dabei die internationale YPJ-Akademie aufzubauen und spielte darin eine große Rolle. Ich konnte den Ort besuchen und ich denke man kann sie selbst und wie viel sie hinein gesteckt darin wirklich spüren. Es hängt ein riesiges Foto von ihr an der Wand, das wahrscheinlich dazu beiträgt, aber ich denke auch auf einer emotionalen Ebene, kann man sie dort spüren. Sie hat einmal mit mir über den Ort gesprochen und meinte, dass dieser Ort die Art von Bildung ist, die sie sich erträumt hat, bevor sie hier her kam.
Es gab vorher keine einfache Struktur für internationalistische Frauen, die kämpfen wollten und sie musste diesen Ort erst selber bauen.
Es dauerte eine Weile bis sie in die YPJ-Ausbildung kam und sie schloss diese ab bevor die internationale YPJ-Akademie fertiggestellt war. Ich denke die Erfahrung dieser Bildung war sehr prägend und hatte viel Einfluss auf sie. Sie hatte einen starken Fokus, sie sagte, dass sie kämpfen wollte und konnte. Sie war nicht mit den Fähigkeiten, wie denen einer Ärztin, hierher gekommen und dachte, dass kämpfen eben das war, was sie beitragen konnte. Mein Eindruck von ihr war immer, dass sie sehr wenig Angst hatte. Ich sage das nicht einmal im Sinne von mutig, sie hatte einfach keine Angst. Ich weiß nicht ob das eine gute oder schlechte Eigenschaft ist, aber es war definitiv eine von Annas Eigenschaften, wenn es zu einer Konfrontation kam. Deswegen kann ich mir gut vorstellen, dass sie immer an dieser Überzeugung festhielt.

Eine Freundin von uns meinte, und ich denke da hat sie völlig Recht, dass sie Anna nie so glücklich erlebt hat wie sie hier war. Als wir Kontakt mit ihr hier aufnahmen war sie so glücklich wie nie und es hat für sie eine Menge Sinn ergeben hier zu sein. Die Klarheit und – man könnte fast sagen – Einfachheit mit der sie Themen Politik und Revolution anging passten sehr gut zu den Arbeiten hier. Sie sagte mal zu mir, dass sie hierher gekommen ist um der kurdischen Bewegung zu helfen und den Kampf zu unterstützen. Dann aber hätte sie realisiert, dass es wichtiger wäre zu lernen und so bekam Bildung bei ihr einen hohen Stellenwert.
Ich glaube, sie wäre hier für eine lange Zeit geblieben. Es kamen immer viele Geschichten von ihr wann sie angeblich zurückkommen würde, aber mich hat davon keine überzeugt. Ihre Rückfahrt verschob sich immer wieder: „Zu der Zeit komme ich zurück“ und dann „Noch ein paar Monate“; „Okay ich komme zur Buchmesse zurück“, „Okay für den Geburtstag meine Bruders“, aber es gab immer noch eine weitere Arbeit zu erledigen. Also ich denke nicht, dass sie irgendwann in nächster Zeit wiedergekommen wäre.

Heval Gelhat:
Naja und du hast vorher auch darüber gesprochen, dass Anna sehr frei von Angst war. Ich denke, das war mir auch bewusst, sogar bevor sie nach Rojava ging.

Du meinst, dass sie so auch in England schon war?

Heval Gelhat:
Ja, ich war mit ihr unterwegs als wir die Konfrontation mit Faschisten in Dover suchten und da sie wurde ziemlich schwer verletzt. Das hat mir gezeigt wie furchtlos sie war. Sie begab sich in den Bereich, wo die Faschisten waren um einen anderen Genossen zu schützen verletzt zu werden. Klar wurde sie dabei selbst verletzt, aber ich denke es zeigt wirklich wie furchtlos sie war. Sie ging direkt da rein und tat was sie tun musste.

Und was habt ihr über ihren Tod gehört? Wie hat sie ihr Leben verloren?

Heval Bêrîvan:
Es gab eine Version mit den Details der Umstände, die sich dann verändert haben, sodass wir jetzt mit unserem Wissen so nah wie eben möglich an der Realität dran sind. Natürlich handelt es sich hier um einen Krieg und die Verhältnisse sind verwirrend. Erst hieß es sie seien in einem Konvoi gewesen, dann doch etwas anderes. Aber jetzt wissen wir, dass sie in einer Verteidigungsposition in Afrin mit drei weiteren Kämpferinnen war. Es gab einen Dronenangriff. Dann verging etwas Zeit, sodass sich die Leute wieder draußen aufhielten – aus welchem Grund auch immer – da gibt es unterschiedliche Versionen. Und dann gab es einen weiteren Luftschlag bei dem drei Menschen ihr Leben verloren und ein Mensch verletzt wurde.

Wie waren denn im Allgemeinen die Reaktionen der Leute um euch herum als sie hörten, dass Anna ihr Leben verloren hat?

Heval Bêrîvan:
Ich denke es gab viele verschiedene Annäherungen an Annas Tod. Es gibt ihre engen Freund_innen, von denen ich viele kenne. Es gibt auch die Freund_innen von früher, Freunde aus Bristol und ihre Familie. Dann gibt es die Menschen, die nicht wussten, dass sie dort war bis sie hörten, dass sie gefallen war. Es gibt Leute, die sie von früher kannte, die es erst über die Nachrichten erfuhren. Mit diesen Menschen hatte sie seit Jahren keinen Kontakt, aber es gab trotzdem noch eine Verbindung und dass sie es über die Nachrichten erfuhren, halte ich für sehr schwierig. Es gab eine wunderbare Breite an Antworten aus diesen Gruppen und ein kollektives Gefühl eine politische Existenz und ein politisches Wesen verloren zu haben. Ich denke, es war wirklich beeindruckend, was alles geschrieben und geteilt wurde.
Es war ein großes Thema in den Medien. Zwar nur für eine kurze Zeit, aber dafür sehr groß. Was das angeht fühle ich mich hin- und hergerissen. Es war gut, dass das Thema eine höhere Relevanz bekam. Allerdings denke ich, dass dieses Thema nicht aus guten Gründen in den Medien so viel Platz erhielt. Vielmehr geschah es aus patriarchalen, imperialistischen Gründen. „Schau dir ihr Gesicht an, das macht deine Zeitung zum Verkaufshit“. Das ist wirklich ekelhaft.
Wichtig war aber, dass die Menschen zusammengekommen sind. Es war uns wichtig, sich zu treffen. Menschen kamen dafür aus Schweden, aus Frankreich, aus allen Teilen von Großbritannien und wir haben uns wirklich darauf fokussiert gut miteinander umzugehen. Ich glaube, dass diese Phase der Trauer eine intensive Form hatte, die auch wieder verfliegen wird und Menschen werden wieder ihre eigenen Wege gehen. Trotzdem hat sehr viel Kraftvolles in dieser Zeit stattgefunden. Das habe ich wirklich gespürt. Willst du weitermachen?

Heval Gelhat:
Ja. Glücklicherweise habe ich von einer/einem sehr engen Freund/in erfahren was mit Sehid Helin passiert ist. Die Nachricht über ihren Tod hatte sich sehr schnell durch die sozialen Medien verbreitet und viele Menschen mussten es leider auf diesem Weg erfahren. Es ist wirklich niederschmetternd über Medien zu erfahren, dass jemand, den du kennst, für den du etwas empfunden hast, getötet wurde.
Als ich davon erfuhr, dass Anna gefallen war, war für mich klar, dass es für mich jetzt nur Kurdistan geben konnte. Ich war von da an sehr fokussiert auf diese Reise. Wenn jemand sein Leben für einen Zweck wie diesen gibt muss daran etwas sehr richtig sein. Niemand geht ein so großes Risiko ein, wenn es das nicht wirklich wert ist. Und ich wollte wissen, was es so wertvoll macht, dass Anna dafür bereit war ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Ich wollte ein Teil davon sein, so viel darüber lernen wie möglich und den Geist dessen, wofür sie kämpfte am Leben halten.

Wollt ihr noch etwas hinzufügen?

Heval Bêrîvan:
Ja ich wollte, zu dem was du Gelhat gerade sagtest, noch etwas hinzufügen. Menschen haben auf viele verschiedene Arten reagiert, aber etwas, das für mich sehr wichtig war, ist etwas was ich vor Kurzem in mein Tagebuch geschrieben habe. Manche Menschen würden über mich sagen, dass ich nie abschalten kann und immer an die wichtigen Dinge denken muss. Doch ich denke für mich ist es ab jetzt nicht mehr möglich diese Momente zu erleben in denen man resigniert und denkt „Was soll ich schon machen, ich gebe auf“, diese Art von politischer Frustration. Das ist einfach nicht mehr möglich seitdem jemand der mir nahe stand gestorben ist. Damit will ich nicht sagen, dass es alle anderen auch auf diese Art und Weise beeinflusst hat und ich meine damit auch nicht nur Kurdistan oder hier zu sein. Aber im Kampf für Veränderung insgesamt spüre ich diesen Antrieb, der jetzt kraftvoller und konstanter ist als vorher. Und ich weiß, dass soweit in meinem Leben gekommen zu sein ohne eine enge Freund_in an den Kampf verloren zu haben ein Zeichen davon ist, wo ich herkomme.. Für so viele Menschen hier ist es normal, Menschen an den Kampf verloren zu haben. Ich wusste das natürlich, aber trotzdem war es für mich eine Veränderung.

Heval Gelhat:
Ich denke außerdem, dass es wirklich gut war, dass die kurdischen Genoss_innen hier und in England so viel ihrer Zeit darin investiert haben denen zu helfen, die ihre Liebsten verloren haben. Dafür kann ich ihnen gar nicht genug danken. Das war wirklich wunderschön. Das gibt mir eine Menge Hoffnung und ich fühle mich hier sehr Zuhause.

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