11.04.2020
Der Covid 19-Virus hält die Welt in Atem. Beim Sprechen darüber fällt es schwer, überhaupt einen Anfang zu finden. Was bedeutet ein verantwortungsvoller Umgang in diesen Tagen und Wochen? Patriarchale Gewalt, Rassismus, Nationalismus, staatliche Repression und alle Missstände, gegen die wir kämpfen, verschwinden durch Covid 19 nicht – vieles wird stattdessen noch verstärkt. Die dramatische Klimakatastrophe ist vollkommen aus dem Blick geraten. All dem müssen wir nun in einer Welt begegnen, in der wir räumlichen Abstand voneinander halten müssen und mehr auf uns selbst zurückgeworfen sind.
Wir sind schockiert über die Zustände an den europäischen Grenzen. Der drohenden und schon beginnenden Katastrophe wird freien Lauf gelassen. Doch wir sind nicht überrascht. Es ist die Fortsetzung leerer, mutloser Willensbekundungen, offener Menschenverachtung und dröhnenden Schweigens gegenüber Zuständen, die schon von Anfang an unhaltbar, aber immer staatlich gewollt waren. Wir stehen Schulter an Schulter gemeinsam mit den Menschen, die sich seit Wochen für die Evakuierung der Lager auf Lesbos einsetzen. Ein anderer Umgang mit einer solchen Situation ist möglich!
Diese Krise verdeutlicht ein weiteres Mal: Das kapitalistische Patriarchat tötet! Diese und alle zukünftigen Pandemien sind nichts Schicksalhaftes. Sie sind Ergebnis des Raubbaus an der Natur, der für legitim gehaltenen Unterwerfung alles Lebenden und dem Streben nach Profitmaximierung als oberstes Gut. Da sich diese Logik insbesondere gegen Frauen* richtet – sie unterwirft, sie tötet, ihre Arbeit entwertet – sind unsere feministischen Kämpfe der Widerstand, auch und vor allem jetzt.
Unsere Aufmerksamkeit und Sorge gilt auch Nord- und Ostsyrien, wo die Demokratische Autonomie-verwaltung wie so oft völlig auf sich allein gestellt ist. Rojava ist nicht erst seit dem 9. Oktober 2019 dem Krieg Erdoğans und seiner jihadistischen Partner mit der Billigung und sogar dem Auftrag der NATO-Staaten ausgesetzt. Dieser Tag markiert den Beginn einer aktuellen „heißen Phase“ in einem bereits jahrelangen Krieg gegen das Streben nach Freiheit – ein Zustand, der Rojava nun zu einer der gefährdetsten Regionen in der aktuellen Pandemie macht. Die 600.000 Binnen-Geflüchteten, die die andauernde Aggression gegen die Region hervorgebracht hat, befinden sich in völlig überlasteten Camps in der Region, die die Bevölkerung solidarisch unter hohem Zeitdruck und nahezu ohne Mittel aufgebaut hat – oder wurden von der Bevölkerung in ihren Häusern aufgenommen, was aber nur in kleinen Teilen möglich ist.
Der UN-Generalsekretär António Guterres rief angesichts der Pandemie zu einem weltweiten Waffenstillstand auf. Diesem Aufruf sind die QSD (Demokratische Selbstverteidigungskräfte) sofort gefolgt. Die Vorsitzende des Demokratischen Rates Syriens (MSD), Ilham Ehmed, fordert eine ernste Haltung der Weltgemeinschaft und Druck auf die Verantwortlichen in der Türkei. Bei ihnen stößt der Appell weiterhin auf taube Ohren. Die Häufigkeit, der Umfang und die Intensität der Besatzungsangriffe türkischer Truppen und jihadistischer Verbündeter auf einzelne Regionen im nord- und ostsyrischen Autonomiegebiet haben sich in den letzten Wochen sogar weiter erhöht.
Schon vor der Corona-Krise nutzte die Türkei Wasser als Waffe. Doch anstatt wenigstens diese perfide Form der Kriegsführung unter den aktuellen Bedingungen zu stoppen, wird sie weiter vorangetrieben. Ein Wasserwerk wurde von der Türkei aus vom Netz genommen, eine Anlage wurde kürzlich durch gezielte Bombardierung der türkisch-jihadistischen Besatzungstruppen zerstört.
Zu sagen, wie viele Infizierte oder sogar schon Todesopfer es aufgrund der Covid 19-Pandemie gibt, ist unmöglich. Denn in der gesamten Region gibt es keine Testmöglichkeit mehr. Das einzige Labor, das die Selbstverwaltung besaß und welches diesen Test durchführen könnte, befindet sich in der von der Türkei besetzten Stadt Serêkaniyê (Ras al-Ain) und ist damit nicht mehr zugänglich. Die Selbstverwaltung hat deswegen zwar selbst Tests entwickelt, diese zeigen aber keine endgültig gesicherten Ergebnisse.
Es mangelt an allem – außer an Zusammenhalt, unermüdlichem Lebenswillen und Widerstand. Allen widrigen Umständen zum Trotz sehen wir, wie in Nord- und Ostsyrien/Rojava Dinge möglich sind, die sonst in dieser Phase unmöglich erscheinen: Dem Gesundheitspersonal wurde die Führung des Kommandos übertragen – keinem Ministerium, nicht dem Militär oder der Polizei. Die Bevölkerung ist dazu aufgerufen, ihnen beizustehen und sich an die beschlossenen Maßnahmen zu halten. Außerdem sind Wasser und Strom seit dem 6. April für die Bevölkerung kostenlos.
Das, was die Gesellschaften vor Ort leisten, ist bemerkenswert – handeln sie doch trotz Embargo und Krieg kollektiv und verantwortungsbewusst. Das ist ein Ergebnis jahrzehntelanger Auseinandersetzung damit, wie ein selbstbestimmtes Leben abseits staatlicher Logik aussehen kann. Es ist ein Ergebnis der Werte und Prinzipien, auf denen die gesellschaftliche Organisierung aufgebaut ist. Trotz der ständigen Bedrohung, trotz ausbleibender internationaler Anerkennung arbeiten die Menschen unermüdlich am Aufbau einer befreiten, gleichberechtigten und ökologischen Gesellschaft. Wie schon so oft in den vergangenen Jahren zeigt die Demokratische Konföderation Nord- und Ostsyrien/Rojava Wege der Hoffnung auch für uns hier auf. Denn: „(…) Hoffnungslosigkeit ist keine Option“, wie Abdullah Öcalan, der Vordenker der Ideen, die dort umgesetzt werden, in Soziologie der Freiheit schreibt. So fühlen wir Freude und Optimismus mit all denjenigen, die Verantwortung gegenüber ihren Mitmenschen nicht verwechseln damit, bedingungslos dem Staat zu folgen.
Wir sind verbunden mit den Menschen weltweit, die sich nicht zum Schweigen bringen lassen. Wir finden andere und neue Wege, gegen Ungerechtigkeiten und für eine freie Gesellschaft zu kämpfen. Wir gehen weiter auf die Straße, wir setzen die feministische Organisierung fort und wir kümmern uns um uns. Wir sehen Chancen, die wir nutzen können gegen die autoritäre Formierung – lasst uns das gemeinsam tun! In Rojava und an all den anderen Orten, wo sich Widerständige vereinen.
Lasst uns das, wofür die Rojava-Revolution und die vielen anderen Kämpfe stehen, verteidigen – egal, wo wir sind! Unsere Solidarität ist ungebrochen! Unser Wille und die Notwendigkeit, feministische, internationalistische Alternativen zum herrschenden System zu schaffen, ist größer als je zuvor! Wir müssen mehr denn je gemeinsam kämpfen!
Wir rufen euch dazu auf, den unermüdlichen Kampf der Bevölkerung Nord- und Ostsyriens zu unterstützen, ihre gegenseitige Unterstützung und Menschlichkeit wertzuschätzen. Wenn ihr könnt, spendet an die feministischen Infrastrukturen vor Ort. Denn die Frauenbewegung und Organisationen wie die Frauenstiftung spielen in der Entwicklung einer kollektiven Alternative für die Gesellschaft in allen Bereichen wie Gesundheit, Bildung und Ökonomie eine Vorreiterrolle mit ihren Projekten.
Stiftung der Freien Frau in Syrien WJAS
Kurdistan Hilfe e.V., Hamburg/ Deutschland
Bank: Hamburger Sparkasse, Germany
IBAN: DE40 2005 0550 1049 2227 04
BIC/swift : HASPDEHHXXX
Stichwort: WJAS
Die Kurdistan-Hilfe e.V. ist als gemeinnütziger Verein anerkannt. Spenden sind steuerlich absetzbar.
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Women Defend Rojava Deutschland & Schweiz und „Gemeinsam kämpfen! Für Selbstbestimmung und Demokratische Autonomie“
April 2020