Erinnerungen an Hediye Abdullah

„Der Feind versucht ja nicht nur uns mit der Waffe anzugreifen, sondern auch unsere Gesellschaftsstrukturen zu zerstören. Es ist wirklich ein Krieg um Sein oder Nichtsein, in dem wir uns momentan befinden.“ Dieses Zitat stammt von Hediye Abdullah, die am 20. November bei einem türkischen Luftangriff in Dêrik getötet worden ist. Die Buchgruppe „Wir wissen was wir wollen“ hat sie bei einem Aufenthalt in Rojava kennengelernt und ihre Erinnerungen an sie aufgeschrieben:

In der Nacht vom 19. auf den 20. November bombardierte die türkische Luftwaffe erneut großflächig die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, Rojava (Westkurdistan) und den Nordirak. Dabei sind Dutzende Menschen ums Leben gekommen und Hunderte verletzt worden. Eine der Bomben traf am Sonntag um Mitternacht auch ein Auto im Dorf Teqil Beqil nahe Dêrik. Zwei der Insassen starben. Die Anwohner:innen eilten zur Hilfe und übten in einer Pressemitteilung heftige Kritik an dem wiederholten Schweigen der Internationalen Koalition zu den Angriffen, als eine zweite Bombe fiel. Eben an jener Stelle, wo die Helfer:innen zusammengekommen waren, um ihrer Trauer und Wut über die Ermordeten Ausdruck zu verleihen, starben neun weitere.

Eine dieser Toten hieß Hediye Abdullah. Sie war Mutter von sechs Kindern und von Beginn an der Revolution in Rojava beteiligt. Im Frauenrat in Dêrik war sie die Verantwortliche der Verteidigungskommission und Mitglied der HPC Jin, einer selbstorganisierten gesellschaftlichen Verteidigungsstruktur der Frauen, die es in jeder selbstverwalteten Stadt gibt. Ziel der HPC Jin ist es, die Selbstverteidigung der Frauen auf allen Ebenen zu stärken und dort zu arbeiten, wo das Herz des Gesellschaftsaufbaus in Rojava liegt: in den Kommunen und der Nachbarschaft. Hier, wo die Menschen in Rojava zusammenkommen; wo sie ihrem Alltag und ihren Problemen gemeinsam begegnen wollen; wo Politik wieder etwas Echtes sein soll; wo die Frauen ihre Revolution erleben; dort gab Hediye Abdullah ihre ganze Kraft.

In ihren Worten hieß das: „Wir haben die Selbstverteidigung im Lokalen verankert und der Gesellschaft ihre Verantwortung aufgezeigt. Wir wollten nicht, dass die Menschen aus Angst das Land verlassen. Vielleicht gehen einige, aber wir bleiben und verteidigen, was wir aufgebaut haben. Alles was wir sind, haben wir in dieser Revolution selbst erschaffen. Wir haben uns in dieser Revolution als unsere eigenen Lehrerinnen erwiesen. Wir haben uns alles gegeben und unsere Persönlichkeit, unseren Willen und unseren Widerstand in der Revolution kennengelernt.“

Hediye Abdullah sagte das im Winter 2018. Auch damals hatte die Türkei mit einer Invasion gedroht und sie nur wenige Monate später in die Tat umgesetzt. Auch damals starben Hunderte ihrer Freund:innen und Wegbegleiter:innen. Ihren Mut und ihren Willen hat sie dadurch nie verloren. Wir hatten zu dieser Zeit das Glück sie als feministische Delegation von „Gemeinsam Kämpfen“ kennenzulernen, Zeit mit ihr zu verbringen, von ihr zu lernen und ein längeres Interview mit ihr zu führen. Mit den Geschichten vieler weiterer großartiger Frauen veröffentlichten wir dieses Gespräch im Winter 2021. Es ist zu einem Buch geworden, das Einblick geben sollte in die Erfahrungen der Revolution von Rojava und denen, die all dies zu einer Frauenrevolution gemacht haben.

Seinen Titel verdankt das Buch „Wir wissen was wir wollen und was wir tun“ der nun ermordeten Hediye Abdullah. Er stammt aus dem Gespräch, in dem sie von den Anfängen der Revolution berichtet. Sie erzählt von der Entschlossenheit mit der die HPC Jin – die lokalen Selbstverteidigungseinheiten der Frauen – aufgebaut wurden, von der Bedeutung der Revolution und davon, den Frauen ihr Selbstvertrauen wieder zu geben:

„In unseren Unterrichtseinheiten lehren wir nicht nur Verteidigung mit der Waffe. Das gehört dazu, vor allem, wenn es zu Angriffsdrohungen kommt. Aber viel wichtiger ist die Bildung auf mentaler Ebene, also wie wir uns gedanklich in solchen Zeiten selbst verteidigen können – in Bezug auf die eigene Sprache, die Haltung oder wie wir uns bei Luftangriffen verhalten müssen. Wie wir uns selbst schützen, wenn es Hunger gibt. Es geht nicht nur um Waffen, sondern vor allem darum, wie sich eine Frau gegen die männliche Mentalität selbst verteidigen und wie sie ihre Kinder freiheitlich erziehen kann.“

Wir gingen als Delegation damals nach Rojava, um von Freundinnen wie Hediye Veränderung lernen zu können und Mut zu finden. Wir gingen auch nach Rojava um irgendwann Sätze wie sie sagen zu können: „Wir wissen, was wir wollen und was wir tun. Wir haben unsere Ketten gesprengt. Wir als Frauen – auch in unserem Alter – und als Mütter erleben in dieser Revolution eine große Veränderung in unserem Denken, unserem Willen und unserem Wissen.“

In tiefer Trauer und Wut gedenken wir Hediye Abdullah und allen, die durch die mörderischen Angriffe getötet wurden. Wir sehen es als unsere Aufgabe, ihre Geschichten immer wieder zu erzählen, ihnen zu gedenken, egal wo wir sind. Was das türkische Regime auslöschen will, tragen wir weiter; ihre Ziele, ihre Wünsche und ihr Vertrauen darin, dass eine bessere Welt möglich ist.

Als Gemeinsam Kämpfen rufen wir alle Feminist:innen, Demokrat:innen, Genoss:innen und Freund:innen auf, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln für die Frauenrevolution in Rojava/Syrien und die Kämpfe in Rojhilat/Iran einzustehen. Sie sind die Hoffnung auf eine Welt ohne Patriarchat, ohne Gewalt und Ausbeutung, in Vielfalt, Ökologie und Basisdemokratie. Hediya Abdullahs Geschichte ist lange nicht am Ende. Verteidigen wir die kämpfenden Frauen – Jin Jiyan Azadî.

Hediye Abdullah (links)

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